Der Untergang des Abendlandes
auffaßten, zeigt die Tatsache, daß sie sich als die Gemeinde der Endzeit in Jerusalem festsetzten und im Tempel verkehrten. Für diese einfachen Leute, darunter seine Brüder, die ihn anfangs durchaus abgelehnt hatten, und die Mutter, die nun an den hingerichteten Sohn glaubte, [Apostelgesch. 1,14; vgl. Mark. 6.] war die Macht der judäischen Überlieferung noch stärker als der apokalyptische Geist. Ihre Absicht, die Juden zu überzeugen, mißlang, obwohl anfangs sogar Pharisäer übertraten; sie blieben eine der vielen Sekten innerhalb des Judentums und man kann das Ergebnis, das »Bekenntnis des Petrus«, wohl so ausdrücken, daß sie selbst das wahre, das Synedrion aber das falsche Judentum vertraten. Matthäus vertritt Lukas gegenüber diese Auffassung. Es ist das einzige Evangelium, in dem das Wort Ekklesia vorkommt, und zwar sind damit die
wahren Juden
gemeint gegenüber der Masse, die den Ruf Jesu nicht hören will. Das ist nicht Mission, so wenig als Jesaja Mission getrieben hat. Gemeinde bedeutet hier einen innerjüdischen Orden. (Die Vorschriften 18, 15–20, sind mit einer allgemeinen Ausbreitung ganz unvereinbar.)
Das letzte Schicksal dieses Kreises [Er zerfiel später selbst in Sekten, darunter die Ebioniten und Elkesaiten (mit einem seltsamen heiligen Buch, dem Elxai: Bousset, Hauptprobleme d. Gnosis, S. 154).] ist in Vergessenheit geraten unter der Wirkung, welche die neue apokalyptische Lehre in der ganzen Welt magischen Fühlens und Denkens sehr bald hervorrief. Unter den späteren Anhängern Jesu waren viele, die wirklich rein magisch empfanden und von pharisäischem Geiste ganz frei waren. Sie haben lange vor Paulus die Missionsfrage stillschweigend für sich gelöst. Sie konnten gar nicht leben, ohne zu verkünden, und sie haben vom Tigris bis zum Tiber überall kleine Kreise gesammelt, in denen die Jesusgestalt in allen denkbaren Auffassungen mit der Masse schon vorhandener Gesichte und Lehren verschmolz. [In der Apostelgeschichte und in allen Paulusbriefen werden solche Sekten angegriffen; es gab wohl keine spätantike und aramäische Religion oder Philosophie, die nicht eine Art Jesussekte aus sich entstehen sah. Die Gefahr war sicherlich vorhanden, daß die Leidensgeschichte nicht der Kern eines neuen Glaubens, sondern ein integrierender Bestandteil aller schon vorhandenen wurde.] Hier ergab sich ein zweiter Zwiespalt, der ebenfalls in den Worten Heiden- und Judenmission enthalten ist und der viel wichtiger wurde als jener im voraus entschiedene Streit zwischen Judäa und der Welt: Jesus hatte in Galiläa gelebt. Sollte die Lehre von ihm nach West oder Ost gerichtet sein? Als Jesuskult oder als Erlöserorden? In engster Fühlung mit der persischen oder der synkretistischen Kirche, die damals beide in Bildung begriffen waren?
Darüber hat Paulus entschieden, die erste große Persönlichkeit in der neuen Bewegung, die erste, die sich nicht nur auf Wahrheiten, sondern auch auf Tatsachen verstand. Als junger Rabbiner aus dem Westen und Schüler eines der berühmtesten Tannaim hatte er die Christen als eine innerjüdische Sekte verfolgt. Nach einer Erweckung, wie sie damals oft vorkam, wandte er sich den vielen kleinen Kultgemeinden des Westens zu und schuf aus ihnen eine Kirche seiner Prägung. Von hier an haben sich die heidnische und die christliche Kultkirche im Gleichschritt und in engster Wechselwirkung bis zu Jamblich und Athanasius (beide um 330) entwickelt. Im Angesicht dieses großen Ziels hat er für die Jesusgemeinde in Jerusalem eine kaum verhehlte Verachtung. Es gibt im Neuen Testament nichts Peinlicheres als den Anfang des Galaterbriefes: er hat seine Tätigkeit auf eigene Faust unternommen und so gelehrt und aufgebaut, wie es ihn gut dünkte. Endlich, nach vierzehn Jahren, geht er nach Jerusalem, um die alten Gefährten Jesu durch seine geistige Überlegenheit, den Erfolg und die Tatsache seiner Unabhängigkeit von ihnen zu dem Eingeständnis zu zwingen, daß seine Schöpfung die wahre Lehre enthalte. Petrus und die Seinen, allem Tatsächlichen fremd, haben die Tragweite der Besprechung nicht erkannt: von da an war die Urgemeinde überflüssig.
Paulus war Rabbiner dem Geiste und Apokalyptiker dem Gefühl nach. Er erkannte den Judaismus an, aber als
Vorgeschichte
. Infolgedessen gab es von nun an zwei magische Religionen mit derselben heiligen Schrift, nämlich dem Alten Testament. Aber dazu gehörte eine doppelte Halacha, die eine in der Richtung auf den Talmud, durch die
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