Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
Vom Netzwerk:
hervor. Nicht Hassen und Lieben, sondern Fürchten und Lieben sind die Grundgefühle der Religion. Haß und Furcht unterscheiden sich wie Zeit und Raum, wie Blut und Auge, wie Takt und Spannung, wie Heldenhaftes und Heiliges. Aber ebenso verschieden ist Liebe im rassehaften und Liebe im religiösen Sinne.
    Alle Religion ist dem Lichte verwandt. Das Ausgedehnte wird auch religiös als Augenwelt von dem Ich als Lichtmitte aus erfaßt. Gehör und Getast werden dem Gesehenen eingeordnet und das Unsichtbare, dessen Wirkungen man sinnlich verspürt, wird zum Inbegriff des Dämonischen. Alles, was wir mit den Worten Gottheit, Offenbarung, Erlösung, Fügung bezeichnen, ist irgendwie ein Element der belichteten Wirklichkeit. Der Tod ist für den Menschen etwas, das er sieht und sehend erkennt, und im Hinblick auf den Tod ist die Geburt das
andre
Geheimnis: beide begrenzen für das Auge das gefühlte Kosmische als Leben eines Leibes im Lichtraum.
    Es gibt eine tiefe, auch den Tieren bekannte Furcht
vor
dem mikrokosmischen Freisein im Raume, vor dem Raume selbst und seinen Mächten, vor dem Tode, und eine andere Furcht
für
das kosmische Strömen des Daseins, das Leben, die gerichtete Zeit. Die erste weckt eine dunkle Ahnung, daß die Freiheit im Ausgedehnten eine neue und tiefere Art von Abhängigkeit als die pflanzenhafte ist. Sie läßt das Einzelwesen im Gefühl seiner Schwäche die Nähe und Verbindung mit anderen suchen. Die Angst führt zum Sprechen und eine Art von Sprache ist jede Religion. Aus der Angst vor dem Raume erheben sich die Numina
der Welt als Natur
und die
Götterkulte
. Aus der Angst für die Zeit entstehen die Numina
des Lebens
, des Geschlechtes, des Staates mit ihrem Mittelpunkt im
Ahnenkult
. Das ist der Unterschied von
tabu
und
totem
, [Vgl. Bd. II, S. 693.] denn auch das Totemistische erscheint stets in religiöser Form, aus einer heiligen Scheu vor dem, was dem Verstehen selbst entzogen und ewig fremd ist.
    Die höhere Religion bedarf der wachen Spannung gegen die Mächte des Blutes und Daseins, die immer in der Tiefe lauern, um ihr uraltes Recht über diese
jüngere
Seite des Lebendigen wieder an sich zu nehmen: »
Wachet
und betet, daß Ihr nicht in Anfechtung fallet.« Trotzdem ist Erlösung ein Grundwort jeder Religion und ein ewiger Wunsch für jedes wache Wesen. In diesem allgemeinen, fast vorreligiösen Sinne bedeutet er das Verlangen nach Befreiung von den Ängsten und Qualen des Wachseins, nach
Entspannung der Spannungen
des furchtgebornen Denkens und Grübelns, nach Lösung und Aufhebung des Bewußtseins von der Einsamkeit des Ich im All, der starren Bedingtheit aller Natur und dem Blick auf die unverrückbare Grenze allen Seins, das Alter, den Tod.
    Auch der Schlaf erlöst. Der Tod selbst ist der Bruder des Schlafs. Auch der heilige Wein, der Rausch bricht die Strenge der geistigen Spannungen und ebenso der Tanz, die dionysische Kunst und jede andere Art von Betäubung und Außersichsein. Das ist ein Entrinnen aus dem Wachsein mit Hilfe des Daseins, des Kosmischen, des »es«,
die Flucht aus dem Raume in die Zeit
. Aber höher als das alles steht die eigentlich religiöse Überwindung der Angst
durch das Verstehen selbst
. Die Spannung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos wird zu etwas, das man liebt, in das man sich ganz versenken kann. [»Wer Gott mit inbrünstiger Seele liebt, der verwandelt sich in ihm« (Bernhard von Clairvaux).] Dies nennen wir
Glauben
und mit ihm beginnt das menschliche Geistesleben überhaupt.
    Es gibt nur kausales Verstehen, ob es hingenommen oder angewandt, ob es vom Empfinden abgezogen ist oder nicht. Es ist gar nicht möglich, Verstandensein und Kausalität zu unterscheiden: beide Worte drücken dasselbe aus. Wo etwas für uns »wirklich« ist, sehen und denken wir es in ursächlicher Form, so wie wir uns selbst und unser Tun als Ur-Sache empfinden und kennen. Dies Ansetzen von Ursachen ist aber nicht nur in der religiösen, sondern in der anorganischen Logik des Menschen überhaupt von Fall zu Fall verschieden. Zu einer Tatsache wird soeben dies und im Augenblick darauf etwas ganz anderes als Ursache gedacht. Jede Art des Denkens hat für jedes ihrer Anwendungsgebiete ein eigenes »System«. Im alltäglichen Leben kommt es nie vor, daß derselbe Kausalzusammenhang genau so noch einmal gedacht wird. Noch in der modernen Physik sind Arbeitshypothesen, das heißt Kausalsysteme, nebeneinander im Gebrauch, die sich teilweise ausschließen wie die

Weitere Kostenlose Bücher