Der Untergang des Abendlandes
elektrodynamischen und thermodynamischen Vorstellungen. Dies widerspricht dem Sinn des Denkens nicht, denn man »versteht« bei dauerndem Wachsein stets in Gestalt einzelner Akte, deren jeder seine eigne kausale Einstellung besitzt. Die Ansicht, daß die ganze Welt als Natur in bezug auf ein Wachsein durch eine einzige Kausalverkettung geordnet sei, ist durch unser Denken, das stets nur Einzelzusammenhänge denkt, gar nicht zu vollziehen. Sie bleibt ein Glaube; sie ist sogar
der Glaube
schlechthin, denn auf ihm beruht das religiöse Weltverstehen, das überall, wo es etwas bemerkt, mit Denknotwendigkeit Numina annimmt, flüchtige für Zufallsereignisse, an die es nie wieder denkt, und dauernde, die etwa in Quellen, Bäumen, Steinen, Hügeln, den Sternen, also an bestimmten Orten hausen oder wie die Gottheiten des Himmels, des Krieges, der Weisheit überall gegenwärtig sein können. Begrenzt sind sie nur innerhalb jedes einzelnen Denkaktes. Was heute Eigenschaft eines Gottes, ist morgen selbst ein Gott. Andere sind bald eine Vielheit, bald eine Person, bald ein unbestimmtes Etwas. Es gibt unsichtbare (Gestalten) und unbegreifliche (Prinzipien), die dem Begnadeten entweder erscheinen oder begreiflich werden können. Das Schicksal [Für das religiöse
Denken
ist Schicksal stets eine kausale Größe. Die Erkenntniskritik kennt es deshalb nur als ein unklares Wort für Kausalität. Nur solange man
nicht
daran denkt, kennt man es wirklich.] ist in der Antike (είμαρμέυη) und in Indien
(rta)
etwas, das als Ur-Sache über den vorstellbaren Gestaltgöttern steht; das magische Schicksal ist aber eine
Wirkung
des einzigen und gestaltlosen höchsten Gottes. Das religiöse Denken geht stets dahin, in der Ursachenfolge Ordnungen des Wertes und Ranges zu unterscheiden bis zu allerhöchsten Wesen oder Prinzipien, die allererste »waltende« Ursachen sind. Fügung ist das Wort für das umfassendste aller auf Wertung beruhenden Kausalsysteme. Wissenschaft ist im Gegensatz dazu ein Verstehen, das von einem Rangunterschied der Ursachen grundsätzlich absieht: was sie findet, ist nicht Fügung, sondern Gesetz.
Das Verstehen von Ursachen erlöst. Der Glaube an die gefundenen Zusammenhänge bringt die Weltangst zum Weichen. Gott ist die Zuflucht des Menschen vor dem Schicksal, das sich fühlen, erleben, aber nicht denken, vorstellen, nennen läßt, das versinkt, solange das »kritische« –
scheidende
– furchtgeborne Verstehen Ursachen hinter Ursachen greifbar, d. h. für das äußere oder innere Auge in optischer Aufreihung feststellt, aber auch nur so lange. Es ist die verzweifelte Lage des höheren Menschen, daß sein mächtiges Verstehenwollen sich in beständigem Widerspruch zu seinem Dasein befindet. Es dient dem Leben nicht mehr; herrschen kann es auch nicht; so bleibt etwas Ungelöstes in allen bedeutenden Lagen. »Es darf sich einer nur für frei erklären, so fühlt er sich den Augenblick als bedingt. Wagt er es, sich für bedingt zu erklären, so fühlt er sich frei.« (Goethe)
Einen kausalen Zusammenhang innerhalb der Welt als Natur, von dem wir überzeugt sind, daß er durch weiteres Nachdenken unmöglich verändert werden könne, nennen wir Wahrheit. Wahrheiten »stehen fest« und zwar zeitlos – absolut bedeutet
abgelöst von Schicksal und Geschichte, abgelöst aber auch von den Tatsachen unseres eignen Lebens und Sterbens
–; sie befreien innerlich, trösten und erlösen, denn die unberechenbaren Geschehnisse der Tatsachenwelt werden durch sie entwertet und überwunden. Oder, wie es sich im Geiste spiegelt: »Mag die Menschheit vergehen, die Wahrheit bleibt.«
In der Umwelt wird etwas fest-gestellt, d. h. gebannt; der verstehende Mensch hat das Geheimnis in Händen, sei es vor Zeiten einen mächtigen Zauberspruch oder heute eine mathematische Formel. Ein Triumphgefühl begleitet jede Erfahrung im Reiche der Natur, heute noch, durch die über Absichten und Kräfte des Himmelsgottes, der Gewittergeister, der Flurdämonen, oder über die Numina der Naturwissenschaft – Atomkerne, Lichtgeschwindigkeit, Gravitation – oder auch nur über die abgezogenen Numina des mit seinem eigenen Bilde beschäftigten Denkens – den Begriff, die Kategorie, die Vernunft – etwas festgestellt und damit in den Kerker eines unveränderlichen Systems kausaler Beziehungen gebracht wird. Erfahrung in diesem anorganischen, tötenden, festmachenden Sinne, die etwas ganz anderes ist als Lebenserfahrung und Menschenkenntnis,
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