Der Untergang des Abendlandes
erfolgt aber in doppelter Weise:
als Theorie und als Technik,
, [Vgl. Bd. II, S. 582.] religiös gesprochen
als Mythos oder Kultus
, je nachdem der Gläubige die Geheimnisse seiner Umwelt erschließen oder bezwingen will. Beides fordert eine hohe Entwicklung des menschlichen Verstehens.
Beides kann aus dem Fürchten oder dem Lieben geboren sein
. Es gibt einen Mythos der Furcht wie den mosaischen und den primitiven überhaupt und einen der Liebe wie den des Urchristentums und der gotischen Mystik, und ebenso eine Technik der abwehrenden und eine andre der flehenden Beschwörung. Dies ist wohl auch der innerlichste Unterschied von Opfer und Gebet [Beide unterscheiden sich durch die
innere
Form. Ein Opfer, das Sokrates darbringt, ist innerlich ein Gebet. Das antike Opfer ist überhaupt als
Gebet in körperhafter Gestalt
aufzufassen. Das »Stoßgebet« des Verbrechers aber ist in Wirklichkeit ein Opfer, zu dem die Angst ihn drängt.] : so trennen sich primitives und höheres Menschentum. Religiosität ist ein Zug der Seele, aber Religion ist ein Talent. »Theorie« fordert die Gabe des Schauens, die nicht alle und wenige in erleuchtender Eindringlichkeit besitzen. Sie ist Weltanschauung im ursprünglichsten Sinne, Anschauung der Welt, ob man nun in ihr das Walten und Weben von Mächten, oder mit städtischem und kälterem Geist, nicht fürchtend oder liebend, sondern
neugierig
, den Schauplatz gesetzmäßiger Kräfte erblickt. Die Geheimnisse von Tabu und Totem werden im Götterglauben und Seelenglauben angeschaut und in der theoretischen Physik und Biologie errechnet. »Technik« setzt die geistige Begabung des Bannens und Beschwörens voraus. Der Theoretiker ist kritischer Seher, der Techniker Priester, der Erfinder Prophet.
Das Mittel aber, in dem die ganze geistige Kraft sich sammelt, ist die durch die Sprache vom Sehen abgezogene
Form
des Wirklichen, deren Quintessenz sich nicht jedem Wachsein erschließt: die
begriffene
Grenze, das
mitteilbare
Gesetz, der Name, die Zahl. Deshalb beruht jede Beschwörung der Gottheit auf der Kenntnis ihres wirklichen Namens, auf der Ausübung der nur dem Wissenden bekannten und zu Gebote stehenden Riten und Sakramente in genau der richtigen Form und unter Gebrauch der richtigen Worte. Das gilt nicht nur vom primitiven Zauberwesen, sondern auch von jeder physikalischen Technik und noch viel mehr von jeder Medizin. Deshalb ist Mathematik etwas Heiliges, das regelmäßig aus religiösen Kreisen hervorgeht – Pythagoras, Descartes, Pascal –, und die Mystik heiliger Zahlen, der 3, 7, 12, ein wesentlicher Zug aller Religion, [Darin unterscheidet sich die Philosophie nicht im geringsten vom urwüchsigen Volksglauben. Man denke an Kants Kategorientafel mit ihren 3x4 Einheiten, an Hegels Methode, an Jamblichs Triaden.] deshalb das Ornament und seine höchste Form im Kultbau etwas Zahlenhaftes in gefühlter Gestalt. Es sind starre, zwingende Formen, Ausdrucksmotive oder Mitteilungszeichen, [Vgl. Bd. II, S. 716.] durch welche innerhalb der Welt des Wachseins das Mikrokosmische mit dem Makrokosmos in Verbindung tritt. In der priesterlichen Technik heißen sie Gebote, in der wissenschaftlichen Gesetze. Beide sind Name und Zahl, und der primitive Mensch würde keinen Unterschied finden zwischen der Zauberkraft, mit welcher der Priester seines Dorfes die Dämonen, und der, mit welcher der zivilisierte Techniker seine Maschinen beherrscht.
Das erste und vielleicht das einzige Ergebnis des menschlichen Verstehenwollens ist der
Glaube
. »Ich glaube« ist das große Wort gegen die metaphysische Angst und zugleich ein Bekenntnis der Liebe. Mag das Forschen und Kennenlernen seinen Gipfel in einer plötzlichen Erleuchtung oder einer erfolgreichen Berechnung haben, so wäre doch alles eigene Empfinden und Begreifen ohne Sinn, wenn nicht die innere Gewißheit von »etwas« sich einstellte, das als das Andre und Fremde und zwar genau in der ermittelten Gestalt in der Verkettung von Ursache und Wirkung »ist«. Der Mensch als Wesen des sprachgeleiteten Denkens kennt also als seinen höchsten geistigen Besitz den endlich errungenen festen Glauben an dieses der Zeit und dem Schicksal entrückte Etwas, das er schauend abgesondert und durch Name und Zahl gezeichnet hat. Aber was das ist, bleibt zuletzt dennoch dunkel. Wurde die geheime Logik des Alls damit selbst berührt oder nur ein Schattenbild? Das ganze Ringen und Leiden, die ganze Angst des grübelnden Menschen richtet sich auf diesen neuen
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