Der Untergang des Abendlandes
parlamentarischen Demokratie und denen der ägyptischen, chinesischen, arabischen Zivilisation, welchen der Gedanke allgemeiner Volkswahlen ganz fremd ist. Aber für uns ist in diesem Zeitalter die Masse
als Wählerschaft
»in Form«, in genau demselben Sinne, wie sie es vorher als Untertanenverband gewesen war,
als Objekt nämlich für ein Subjekt,
und wie sie es in Bagdad und Byzanz als Sekte oder Mönchtum und anderswo als regierendes Heer, Geheimbund oder Sonderstaat im Staate ist. Die Freiheit ist wie immer lediglich
negativ.
[Vgl. Bd. II, S. 998.] Sie besteht in der Ablehnung der Tradition: der Dynastie, der Oligarchie, des Kalifats; aber die ausübende Macht geht von diesen sofort und ungeschmälert an neue Gewalten über, an Parteihäupter, Diktatoren, Prätendenten, Propheten und ihren Anhang, und ihnen gegenüber bleibt die Menge weiterhin
bedingungslos Objekt.
[Wenn sie sich trotzdem befreit
fühlt,
so beweist das wiederum die tiefe Unverträglichkeit zwischen großstädtischem Geist und gewachsener Tradition, während zwischen seiner Tätigkeit und dem Regiertwerden durch das Geld eine innere Beziehung besteht.] »Selbstbestimmungsrecht des Volkes« ist eine höfliche Redensart; tatsächlich hat mit jedem allgemeinen – anorganischen – Wahlrecht sehr bald der ursprüngliche Sinn des Wählens überhaupt aufgehört. Je gründlicher die gewachsenen Gliederungen der Stände und Berufe politisch ausgelöscht werden, desto formloser, desto hilfloser wird die Wählermasse, desto unbedingter ist sie den neuen Gewalten ausgeliefert, den Parteileitungen, welche der Menge mit allen Mitteln geistigen Zwanges ihren Willen diktieren, den Kampf um die Herrschaft unter sich ausfechten, mit Methoden, von denen die Menge zuletzt weder etwas sieht noch versteht, und welche die öffentliche Meinung lediglich als selbstgeschmiedete Waffe gegeneinander erheben. Aber eben deshalb treibt ein unwiderstehlicher Zug jede Demokratie auf diesem Wege weiter, der sie zu ihrer Aufhebung durch sich selbst führt. [Die deutsche Verfassung von 1919, also schon an der Schwelle der
absteigenden
Demokratie entstanden, enthält in aller Naivität eine Diktatur der Parteimaschinen, die sich selbst alle Rechte übertragen haben und niemandem ernsthaft verantwortlich sind. Die berüchtigte Verhältniswahl und die Reichsliste sichern ihnen die Selbstergänzung. Statt der Rechte des »Volkes«, wie sie die Verfassung von 1848 der Idee nach enthielt, gibt es nur solche der Parteien, was harmlos klingt, aber den Cäsarismus der Organisationen in sich schließt. In diesem Sinne ist sie allerdings die fortgeschrittenste Verfassung des Zeitalters; sie läßt das Ende bereits erkennen; einige ganz kleine Änderungen, und sie verleiht Einzelnen die unumschränkte Gewalt.]
Die Grundrechte eines antiken Volkes
(demos, populus)
erstrecken sich auf die Besetzung der hohen Staatsämter und die Rechtsprechung. [Dagegen ist die Gesetzgebung mit einem Amt verbunden. Auch wo die Annahme oder Verwerfung der Form nach einer Versammlung zusteht, kann das Gesetz nur durch einen Beamten, etwa den Tribun, eingebracht werden. Rechtswünsche der Menge, meist durch die Machthaber suggerierte, äußern sich also im Ausfall von Beamtenwahlen, wie die Gracchenzeit lehrt.] Dafür war man »in Form« auf dem Forum, ganz euklidisch, als körperhaft gegenwärtige Masse an einem Punkt versammelt, und hier war man Objekt einer Bearbeitung antiken Stils, nämlich mit körperlichen, nahen, sinnlichen Mitteln, mit einer Rhetorik, die unmittelbar auf jedes Ohr
und Auge
wirkte, und die mit ihren uns zum Teil widerlichen und kaum zu ertragenden Mitteln, einstudierten Tränen, zerrissenen Gewändern, [Noch der 50jährige Cäsar mußte seinen Soldaten am Rubikon diese Komödie vorspielen, weil sie daran gewöhnt waren, wenn man etwas von ihnen wollte. Es entspricht etwa dem »Brustton der Überzeugung« in heutigen Versammlungen.] mit schamlosem Lob der Anwesenden, wahnwitzigen Lügen über den Gegner, einem festen Bestand glänzender Wendungen und wohlklingender Kadenzen ausschließlich an dieser Stelle und zu diesem Zweck entstanden ist; mit Spielen und Geschenken, mit Drohungen und Schlägen, vor allem aber mit Geld. Wir kennen die Anfänge aus dem Athen von 400, [Aber der Typus Kleon ist selbstverständlich damals in Sparta und in Rom zur Zeit der Konsulartribunen (Bd. II, S. 1068 Anm.) ebenso vorhanden gewesen.] das Ende in erschreckendem Maßstabe aus dem Rom Cäsars und
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