Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
Vom Netzwerk:
Bevölkerung der großen Städte und das Zeitalter des Rationalismus, dieser »Religion der Gebildeten«. [Vgl. Bd. II, S. 935f.] Auf das Bauerntum wirkt er gar nicht und auf die städtischen Massen nur für gewisse Zeit, da aber mit der Gewalt einer neuen Offenbarung. Man wird bekehrt, man hängt mit Inbrunst an Worten und ihren Verkündern; man wird zum Märtyrer auf Barrikaden, auf den Schlachtfeldern, am Galgen; vor den Blicken öffnet sich ein politisches und soziales Jenseits, und die nüchterne Kritik erscheint niedrig und profan und ist des Todes würdig.
    Aber damit sind Schriften wie der
Contrat social
und das kommunistische Manifest Machtmittel ersten Ranges in der Hand von Gewaltmenschen, die innerhalb des Parteilebens emporgekommen sind und die Überzeugung der beherrschten Masse zu bilden und benützen wissen. [Vgl. Bd. II, S. 577.]
    Indessen, diese abstrakten Ideale besitzen eine Macht, die sich kaum über zwei Jahrhunderte – die der Parteipolitik – erstreckt. Sie werden zuletzt nicht etwa widerlegt sondern langweilig. Rousseau ist es längst und Marx wird es in kurzem sein. Man gibt endlich nicht diese oder jene Theorie auf, sondern den Glauben an Theorien überhaupt und damit den schwärmerischen Optimismus des 18. Jahrhunderts, unzulängliche Tatsachen durch Anwendung von Begriffen verbessern zu können. Als Plato, Aristoteles und ihre Zeitgenossen die antiken Verfassungsarten definierten und mischten, um die weiseste und schönste zu erhalten, hörte alle Welt zu, und gerade Plato hat mit seinem Versuch, Syrakus nach einem ideologischen Rezept umzugestalten, diese Stadt zugrunde gerichtet. [Über die Geschichte dieses tragischen Experiments vgl. Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. V, § 987 ff.] Es scheint mir ebenso sicher, daß die südlichen Staaten Chinas durch philosophische Experimente gleicher Art außer Form gebracht und damit dem Imperialismus von Tsin ausgeliefert worden sind. [Bd. II, S. 1082. Die »Pläne der kämpfenden Staaten«, das
tschun-tsiu fan lu
und die Biographien bei Se-ma-tsien sind voll von Beispielen einer schulmeisterlichen Einmischung der »Weisheit« in die Politik.] Die jakobinischen Fanatiker der Freiheit und Gleichheit haben Frankreich seit dem Direktorium für immer der wechselnden Herrschaft von Armee und Börse ausgeliefert, und jeder sozialistische Aufruhr bricht dem Kapitalismus neue Bahnen. Aber als Cicero sein Buch vom Staate für Pompejus und Sallust seine beiden Mahnschriften an Cäsar schrieb, achtete niemand mehr darauf. Bei Ti. Gracchus wird man vielleicht noch einen Einfluß jenes stoischen Schwärmers Blossius entdecken, der später Selbstmord beging, nachdem er auch Aristoneikos von Pergamon ins Verderben geführt hatte, [Über dessen aus Sklaven und Tagelöhnern gebildeten »Sonnenstaat« vgl. Pauly-Wissowa, Real-Enc. 2, 961. Ebenso stand der revolutionäre König Kleomenes III. von Sparta (235) unter dem Einfluß des Stoikers Sphairos. Man begreift, weshalb der römische Senat wiederholt die »Philosophen und Rhetoren«, d. h. Geschäftspolitiker, Phantasten und Wühler auswies.] aber im letzten vorchristlichen Jahrhundert sind die Theorien ein verbrauchtes Schulthema geworden und es handelt sich von da an um die Macht allein.
    Niemand sollte sich darüber täuschen, daß das Zeitalter der Theorie auch für uns zu Ende geht. Die großen Systeme des Liberalismus und Sozialismus sind sämtlich zwischen 1750 und 1850 entstanden. Das von Marx ist heute schon fast ein Jahrhundert alt und ist das letzte geblieben. Innerlich bedeutet es mit seiner materialistischen Geschichtsauffassung die äußerste Konsequenz des Rationalismus und demnach einen Abschluß. Aber wie der Glaube an Rousseaus Menschenrechte etwa mit 1848, so hat der Glaube an ihn mit dem Weltkrieg seine Kraft verloren. Wer die Hingabe bis zum Tode, die Rousseaus Gedanken in der französischen Revolution gefunden haben, mit der Haltung der Sozialisten von 1918 vergleicht, die eine Überzeugung, welche sie nicht mehr besaßen, vor ihrer Anhängerschaft und in ihr aufrecht erhalten mußten, nicht um der Idee, sondern um der Macht willen, die davon abhängig war, der sieht auch den ferneren Weg vorgezeichnet, auf dem endlich jedes Programm fallen wird, weil es dem Kampf um die Gewalt nur noch im Wege steht. Der Glaube daran hatte die Großväter
ausgezeichnet
; für die Enkel ist er ein Beweis von Provinzialismus. An seiner Stelle keimt heute schon aus Seelennot und Gewissensqual eine neue resignierte

Weitere Kostenlose Bücher