Der Unterhändler
es schließlich für die Öffentlichkeit freigegeben wird.
Bevor Michail Gorbatschow Cormacks sonderbarem Ersuchen stattgab, hatte er sich mit den Fachleuten vom staatlichen Fernsehen beraten. Sie waren ebenso überrascht wie er, meinten aber, daß erstens nur ganz wenige Sowjetbürger den Amerikaner ohne Übersetzung verstehen würden (und diese konnte notfalls entschärft werden, wenn Cormack zu weit ging), und daß man zweitens die Ansprache in einer acht bis zehn Sekunden langen »Schleife« halten und sie mit ein paar Sekunden Verzögerung übertragen könnte. Und falls er wirklich zu weit ginge, ließe sich ein plötzlicher Ausfall der Übertragung inszenieren. Schließlich wurde vereinbart, daß der Generalsekretär, wenn er einen solchen Abbruch wünschte, sich nur mit dem Zeigefinger am Kinn zu kratzen brauchte. Das übrige würden die Techniker erledigen. Dies konnte natürlich nicht für die drei amerikanischen TV -Teams oder das der BBC gelten, aber das wäre gleichgültig, da ihre Aufnahmen die sowjetische Bevölkerung niemals erreichen würden.
Nachdem Michail Gorbatschow seine Ansprache mit einer Bekundung des Goodwills gegenüber dem amerikanischen Volk und seiner fortdauernden Hoffnung auf Frieden zwischen den USA und der Ud SSR beendet hatte, blickte er zu seinem Gast hin. John F . Cormack erhob sich. Der Russe deutete auf das Lesepult und das Mikrofon, übergab dem Präsidenten das Wort und setzte sich neben den Mittelplatz. Der Präsident trat hinter das Mikrofon. Notizen für seine Rede waren nicht zu sehen. Er hob nur den Kopf, blickte direkt in das Auge der sowjetischen Kamera und begann zu sprechen.
»Männer, Frauen und Kinder der Ud SSR …« In seinem Dienstzimmer riß es Marschall Koslow auf seinem Stuhl nach vorne. Er starrte wie gebannt auf den Bildschirm, sah, wie auf dem Podium Michail Gorbatschows Augenbrauen zuckten, ehe er seine Fassung zurückgewann. In einer Übertragungskabine hinter der Kamera des Sowjetfernsehens legte ein junger Mann, den man für einen Harvard-Abgänger hätte halten können, die Hand über ein Mikrofon und flüsterte einem hochgestellten Beamten neben ihm eine Frage zu, doch dieser schüttelte den Kopf. John F . Cormack sprach nämlich keineswegs englisch, sondern in einem flüssigen Russisch.
Er beherrschte die Sprache nicht, hatte jedoch vor seinem Abflug in die Ud SSR hinter der verschlossenen Tür eines Schlafzimmers im Weißen Haus eine fünfhundert Worte umfassende Ansprache auf russisch auswendig gelernt und sie mit Hilfe von Tonbändern und mit Unterstützung eines Sprachlehrers so lange eingeübt, bis er sie ohne jedes Stocken und mit perfekter Aussprache vortragen konnte, ohne auch nur ein einziges Wort davon zu verstehen. Selbst für einen ehemaligen Professor von einer der amerikanischen Eliteuniversitäten war das eine Glanzleistung.
»Vor fünfzig Jahren«, begann er, »wurde dieses Land, Ihre geliebte Heimat, mit einem Krieg überzogen. Ihre Männer kämpften und starben auf dem Schlachtfeld oder lebten wie Wölfe in ihren eigenen Wäldern. Ihre Frauen und Kinder mußten in Kellern hausen und sich mit armseligen Bissen ernähren. Millionen Menschen kamen um. Ihr Land wurde verwüstet. Obwohl meinem Land so etwas nie widerfahren ist, gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich verstehen kann, wie sehr Sie den Krieg hassen und fürchten müssen.
Seit fünfundvierzig Jahren richten wir, die Russen wie die Amerikaner, Mauern zwischen uns auf, reden wir uns ein, daß der andere der nächste Aggressor sein werde. Wir haben Berge aufgehäuft – Berge aus Stahl, aus Geschützen und Panzern, aus Schiffen, Flugzeugen und Bomben. Und die Mauern der Lügen wurden immer höher gebaut, um die Berge aus Stahl zu rechtfertigen. Es gibt Leute, die behaupten, wir brauchen all diese Waffen, weil sie eines Tages notwendig sein werden, damit wir einander vernichten können. No ja skaschu: my poidjom drugim putjom.«
Es war beinahe zu hören, wie die Zuhörer auf dem Flughafen den Atem anhielten. Diesen Satz – »Aber ich sage, wir werden, wir müssen einen anderen Weg einschlagen« – hatte Präsident Cormack bei Lenin entlehnt, und jedes Schulkind in der Ud SSR kannte ihn. Das russische Wort »put« bedeutet Straße, Weg oder auch – Kurs, Richtung. Dann fuhr er mit dem anschaulichen Bild des Weges fort: »Ich meine den Weg der schrittweisen Abrüstung und des Friedens. Wir haben nur einen einzigen Planeten, auf dem wir leben können, und es ist ein
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