Der Untertan
schon wieder Reichstagswahlen? Und ich war so froh, daß wir unsern bewährten Abgeordneten hatten...« Er erschrak noch mehr. »Das heißt, natürlich, Kühlemann ist auch ein Freund des Herrn Richter...«
»Ein Nörgler!« schnaubte Diederich. »Ein vaterlandsloser Geselle!« Er rollte die Augen. »Herr Präsident! Diesmal ist es aus in Netzig mit den Leuten. Lassen Sie mich nur erst Stadtverordneter sein, Herr Bürgermeister!«
»Was dann?« fragte Wulckow. Diederich wußte es nicht. Glücklicherweise entstand im Saal ein Zwischenfall; Stühle wurden gerückt, und jemand ließ sich die große Tür öffnen: Kühlemann selbst war es. Der Greis schleppte seine schwere kranke Masse eilig durch die Spiegelgalerie. Am Büffet fand man, seit dem Prozeß sei er noch mehr verfallen.
»Er hätte Lauer lieber freigesprochen, die anderen Richter haben ihn überstimmt«, sagte Diederich. Doktor Scheffelweis meinte: »Nierensteine führen wohl schließlich zur Auflösung.« Worauf Wulckow humoristisch: »Na, und im Reichstag sind wir seine Nierensteine.«
Der Bürgermeister lachte gefällig. Aber Diederich riß die Augen auf. Er näherte sich dem Ohr des Präsidenten und raunte: »Sein Testament!«
»Was ist damit?«
»Er hat die Stadt zum Erben eingesetzt«, erklärte Doktor Scheffelweis wichtig. »Wahrscheinlich bauen wir von dem Geld ein Säuglingsheim.«
»Bauen Sie?« Diederich feixte verachtungsvoll. »Einen nationaleren Zweck können Sie sich wohl nicht denken?«
»Ach so.« Wulckow nickte Diederich anerkennend zu. »Wieviel Pinke hat er denn?«
»Eine halbe Million wenigstens«, sagte der Bürgermeister, und er beteuerte: »Ich wäre glücklich, wenn es zu machen wäre, daß —«
»Es ist glatt zu machen«, behauptete Diederich.
Da hörte man draußen im Saal ein Lachen, das ganz verschieden klang von dem vorigen. Es kam aus ungehemmter Brust und drückte sicherlich Schadenfreude aus. Auch zog die Dichterin sich fluchtartig bis hinter das Büffet zurück; ja, sie schien bereit, hineinzukriechen. »Grundgütiger Gott!« wimmerte sie. »Alles ist verloren.«
»Nanu?« machte ihr Gatte und stellte sich drohend in die Tür. Aber selbst dieses konnte die Heiterkeit nicht mehr aufhalten. Magda hatte zu der Gräfin gesagt: »Spute dich, du dumme Landpomeranze, daß der Herr Leutnant den Kaffee kriegt.« Eine andere Stimme verbesserte »Tee«, Magda wiederholte »Kaffee«, die andere blieb bei ihrer Meinung und Magda auch. Das Publikum hatte erfaßt, daß ein Mißverständnis zwischen ihr und der Souffleuse vorlag. Übrigens griff der Leutnant mit Glück ein, er schlug die Sporen aneinander und sagte: »Ich bitte um beides« — worauf das Lachen einen nachsichtigeren Charakter annahm. Aber die Dichterin war empört. »Das Publikum! Es ist und bleibt eine Bestie!« knirschte sie.
»Schiefgehen kann es immer«, sagte Wulckow — und blinzelte Diederich an.
Diederich erwiderte ebenso bedeutsam: »Wenn man einander versteht, Herr Präsident, dann nicht.«
Hierauf hielt er es für besser, sich ganz der Dichterin und ihrem Werk zu widmen. Mochte der Bürgermeister inzwischen seine Freunde verraten und sich für die Wahlen auf alle Wünsche Wulckows verpflichten!
»Meine Schwester ist eine Gans«, erklärte Diederich. »Ich werde ihr nachher die Meinung sagen!«
Frau von Wulckow lächelte wegwerfend. »Das arme Ding, sie tut, was sie kann. Von seiten der Leute aber ist es wahrhaftig eine unerträgliche Arroganz und Undankbarkeit. Noch soeben hat man sie erhoben und für das Ideale begeistert!«
Diederich sagte durchdrungen: »Frau Gräfin, diese bittere Erfahrung machen nicht Sie allein. So ist es überall im öffentlichen Leben.« Denn er dachte an die allgemeinen Hochgefühle damals nach seinem Zusammenstoß mit dem Majestätsbeleidiger und an die Prüfungen, die dann gefolgt waren. »Schließlich triumphiert doch die gute Sache!« stellte er fest.
»Nicht wahr?« sagte sie mit einem Lächeln, das wie aus Wolken brach. »Das Gute, Wahre, Schöne.«
Sie reichte ihm die schmale Rechte. »Ich glaube, mein Freund, wir verstehen uns« — und Diederich, des Augenblicks bewußt, drückte kühn die Lippen darauf, mit einem Kratzfuß. Er legte die Hand an das Herz und brachte gepreßt aus der Tiefe: »Glauben Sie mir, Frau Gräfin —«
Die Nichte und der junge Sprezius waren jetzt allein geblieben, hatten sich als erniedrigte Gräfin und armer Vetter erkannt, wußten nun, daß sie einander bestimmt waren, und
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