Der Untertan
war, stand jetzt unbeweglich vor seinem Schilderhaus. Der Helm hatte sich ihm verschoben, man sah, daß er bleich war, den Mund offen hatte und auf den Gefallenen hinstierte — indes er sein Gewehr beim Lauf hielt und es am Boden schleppen ließ. Im Publikum, zumeist Arbeitern und Frauen aus dem Volk, ward dumpf gemurrt. Plötzlich sagte eine Männerstimme sehr laut: »Oho!« — und darauf trat tiefe Stille ein. Diederich und Jadassohn verständigten sich durch einen blassen Blick über das Kritische des Augenblicks.
Die Straße herunter lief ein Schutzmann und ihm voraus ein Mädchen, dessen Rock wehte und das schon von weitem rief: »Da liegt er! Der Soldat hat geschossen!«
Sie war angelangt, sie warf sich auf die Knie, sie rüttelte den Mann. »Auf! Steh doch auf!«
Sie wartete. In seinen Füßen schien es zu zucken; aber er blieb liegen, Arme und Beine über das Pflaster gestreckt. Da schrie sie los: »Karl!« Es gellte, daß alle auffuhren. Frauen schrien mit, mehrere Männer stürzten vor, die Fäuste geballt. Die Ansammlung war dichter geworden; zwischen den Wagen, die halten mußten, quoll Nachschub hervor; und in dem drohenden Gedränge arbeitete das Mädchen sich ab, unter ihren aufgelösten Haaren, die flatterten, und mit verzerrtem, nassem Gesicht, woraus wohl Geschrei kam, aber man hörte es nicht, der Lärm verschlang es.
Der einzige Schutzmann drängte mit ausgebreiteten Armen die Menge zurück, sie trat sonst auf den Liegenden. Er schrie vergebens gegen sie an, tanzte ihr auf den Füßen und sah sich, den Kopf verlierend, in der Luft nach Hilfe um.
Und sie kam. Im Regierungsgebäude ging ein Fenster auf, ein großer Bart erschien, und eine Stimme drang heraus, eine furchtbare Baßstimme, die jeder, auch wenn er sie noch nicht verstand, durch allen Aufruhr dröhnen hörte wie fernen Kanonendonner.
»Wulckow«, sagte Jadassohn. »Na endlich.«
»Ich verbitte mir das!« tönte es herunter. »Wer erlaubt sich hier vor meinem Hause Lärm zu machen!« Und da es schon ruhiger ward: »Wo ist der Posten?«
Jetzt sahen die meisten erst, daß der Soldat sich in sein Schilderhaus zurückgezogen hatte: so tief wie möglich, und nur der Gewehrlauf stand hervor.
»Komm raus, mein Sohn!« befahl der Baß von oben. »Du hast deine Pflicht getan. Er hat dich gereizt. Für deine Tapferkeit wird Seine Majestät dich belohnen. Verstanden?«
Alle hatten ihn verstanden und waren verstummt, sogar das Mädchen. Um so ungeheurer dröhnte er: »Zerstreut euch sofort, sonst laß ich schießen!«
Eine Minute, und einige liefen schon. Gruppen von Arbeitern lösten sich auf, zögerten — und gingen wieder ein Stück weiter, mit gesenkten Köpfen. Der Regierungspräsident rief noch hinunter: »Paschke, holen Sie mal 'n Doktor!«
Dann klappte er das Fenster wieder zu. Im Eingang der Regierung aber ward es lebendig. Plötzlich waren Herren da, die kommandierten, eine Menge Schutzleute liefen von allen Seiten zusammen, knufften auf das Publikum ein, das noch übrig war, und schrien ganz allein. Diederich und seine Begleiter, die sich hinter ihre Ecke zurückgezogen hatten, sahen drüben auf der Treppe der Loge einige Herren stehen. Jetzt machte Doktor Heuteufel sich zwischen ihnen Platz. »Ich bin Arzt«, sagte er laut, ging rasch über die Straße und beugte sich zu dem Verwundeten. Er wendete ihn um, öffnete ihm die Weste und legte das Ohr an seine Brust. In diesem Augenblick waren alle still, sogar die Schutzleute schrien nicht mehr; das Mädchen aber stand da, vorwärtsgeneigt, die Schultern hinaufgezogen wie unter einem drohenden Schlag und die Faust am Herzen geballt, als sei es dies Herz, das nun stillstehen sollte.
Doktor Heuteufel erhob sich. »Der Mann ist tot«, sagte er. Gleichzeitig bemerkte er das Mädchen, das schwankte. Er griff nach ihr. Aber sie stand schon wieder, sie sah auf das Gesicht des Toten nieder und sagte nur: »Karl.« Noch leiser: »Karl.« Doktor Heuteufel sah umher und fragte: »Was soll mit dem Mädchen geschehen?«
Da trat Jadassohn vor. »Assessor Jadassohn von der Staatsanwaltschaft«, sagte er. »Das Mädchen ist abzuführen. Da ihr Geliebter den Posten gereizt hat, liegt Verdacht vor, daß sie sich an der strafbaren Handlung beteiligt hat. Wir werden die Untersuchung einleiten.«
Zwei Schutzleute, denen er winkte, faßten das Mädchen schon an. Doktor Heuteufel erhob die Stimme: »Herr Assessor, ich erkläre als Arzt, daß der Zustand des Mädchens seine Verhaftung nicht
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