Der unwiderstehliche Mr Sinclair
verließ das Büro. Verblüfft hob Emily, die fast zwanzig Jahre lang die Sekretärin seines Vaters gewesen war, den Kopf.
“Ich bin weg”, brummte Taylor mürrisch. “Bis morgen früh, Emily.”
“Ja, Sir”, erwiderte sie, aber ihr neuer Chef war schon außer Sicht. “Du meine Güte”, flüsterte sie kopfschüttelnd. “Was ist denn in den gefahren?”
In dieser Nacht hatte Janice zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder den Traum.
Es hatte Zeiten gegeben, in denen er sie fast jede Nacht gequält hatte, aber seitdem hatte sie ruhig schlafen können.
Bis heute.
Sie war ein kleines Mädchen und stand am Fenster einer kleinen schäbigen Wohnung, die Hände an der Scheibe.
“Bitte, Mama”, sagte sie. “Die anderen Kinder spielen draußen Himmel und Hölle. Darf ich mitspielen? Bitte, Mama.”
“Nein, auf keinen Fall. Was ist, wenn du hinfällst und dir ein Knie oder einen Ellbogen aufschürfst? Wie würde die Jury beim Schönheitswettbewerb das wohl finden? Komm jetzt her und üb dein Lied.”
“Ich kenne mein Lied, ich will nach draußen und spielen. Nie darf ich das.”
“Es sind ganz gewöhnliche Kinder, Janice Jennings, und du bist das nicht. Du bist schön, und das ist viel wichtiger als alberne Spiele auf der Straße. Deine Schönheit ist das Einzige, was zählt. Verstehst du denn nicht? Dein Aussehen ist deine Fahrkarte in ein herrliches Leben, und ich werde dafür sorgen, dass du bekommst, was du verdienst. Komm jetzt vom Fenster weg. Die Sonne ist zu grell, und ich lasse nicht zu, dass du Sommersprossen bekommst.”
“Aber Mama …” Tränen liefen über ihr Gesicht, und ein Schluchzen ließ sie verstummen.
“Hör auf, wie ein Baby zu weinen. Du bist sechs Jahre alt und nimmst seit drei Jahren an diesen Schönheitswettbewerben teil und kennst die Regeln. Schönheit, Janice, darauf kommt es an.”
“Ich will nicht schön sein. Ich hasse es. Ich hasse es. Ich …”
Janice fuhr im Bett hoch. Dir Herz schlug so heftig, dass das Klopfen in ihren Ohren dröhnte.
“Ich hasse es”, flüsterte sie.
Sie zog die Beine an, schlang die Arme darum und legte die nasse Stirn auf die Knie. Ihr zerzaustes Haar fiel ihr ins Gesicht und fühlte sich an wie ein schwerer Vorhang.
“Oh, Gott”, sagte sie und holte zitternd Luft.
Dann hob sie den Kopf, schob das Haar nach hinten und wischte die Tränen von den Wangen.
Warum war der Traum wiedergekehrt und hatte die schmerzhaften Erinnerungen geweckt? Ihr Leben war friedlich, gelassen, genau so, wie sie es wollte. Sie hatte nichts anders gemacht, hatte nicht gegen ihre angenehme Alltagsroutine verstoßen.
Außer …
“Oh nein.”
Janice ließ den Kopf aufs Kissen sinken und starrte an die Decke.
Außer, dass sie Taylor Sinclairs Einladung zum Essen angenommen hatte.
Er war an allem schuld. Taylor war der Grund, aus dem der schlimme Traum sie nach so langer Zeit wieder heimgesucht hatte.
Nein, das war nicht fair. Taylor machte nur seine Arbeit. Er lernte die Klienten kennen, die er von Clem geerbt hatte.
Also wollte er mit der Inhaberin von Sleeping Beauty essen gehen, um ungestört mit ihr über geschäftliche Dinge zu reden.
Sleeping Beauty, dachte sie. Der Name ihrer Boutique war perfekt. Niemand wusste, dass er nicht nur zu der exquisiten Wäsche passte, die sie verkaufte, sondern auch zu der Frau, der sie gehörte. Zu ihrer eisernen Entschlossenheit, ihre Schönheit vor der Öffentlichkeit zu verbergen, sie für immer in ihrem Versteck zu lassen. Sie selbst war eine schlafende Schönheit, wie Dornröschen im Märchen.
Janice seufzte vor Erleichterung.
Jetzt wusste sie, warum der Traum zurückgekehrt war. Der Rest lag bei ihr. Sie würde sich vor Taylors magnetischer Anziehungskraft hüten. Er war gefährlich, eine Bedrohung ihres inneren Friedens und des ruhigen Lebens, das sie sich aufgebaut hatte.
Sie war kein Kind mehr, sie konnte auf sich aufpassen und selbst entscheiden, was gut für sie war. Ihre Mutter war tot, ebenso wie der Mann, der Janice geheiratet hatte, um sie wie eine wunderschöne Trophäe herumzuzeigen. Der Mann, der sie so schmählich verraten hatte.
Nie wieder würde sie sich zur Schau stellen lassen, um von wildfremden Menschen begutachtet zu werden. Nie wieder würden andere darüber urteilen, ob sie hübsch genug war, um akzeptiert zu werden.
Sie war Janice Jennings, Sleeping Beauty, und ihr Leben gehörte ihr selbst.
“Ja”, flüsterte sie und schloss die Augen, Als sie einschlief, fürchtete sie
Weitere Kostenlose Bücher