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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Bibliotheksbenutzer. An gut ausgeleuchteten Arbeitstischen saßen Studenten und lernten. Andere büffelten in den Sesseln, die an den Wänden entlang aufgestellt waren. Wieder andere suchten in den Regalen herum. Das Durchschnittsalter der Benutzer war nicht viel höher als zwanzig Jahre.
    Alle Hautfarben waren vertreten. Zerstreut wirkende Weiße teilten ihre Aufmerksamkeit zwischen ihrem Buch und ihrem Handy. Hochkonzentrierte Schwarze schienen alles um sich herum vergessen zu haben. Asiaten kicherten und stießen einander mit den Ellbogen an. Maghrebiner mit weißer Takke auf dem Kopf waren völlig in ihre Bücher vertieft. Der Elfenbeinturm erwies sich gleichzeitig als Turmbau zu Babel.
    Janusz hatte den Eindruck, sich auf vertrautem Terrain zu bewegen. Die moderne Umgebung, die Bücher und die intellektuelle Atmosphäre kamen ihm bekannt vor. Irgendwann in seinem Leben hatte auch er seine Nachmittage auf diese Weise verbracht.
    In der dritten Etage waren die Abteilungen Mythologie und Religionen der Antike untergebracht.
    Als er zwischen den Regalen stand und die Bücher konsultierte, stellte er fest, dass er genau wusste, wonach er suchte. Die Bibliotheca historica von Diodor von Sizilien, und zwar Buch IV. Die Metamorphosen von Ovid, Buch VII und VIII. Mit anderen Worten: Er hatte bereits Recherchen in diese Richtung angestellt. Eine Welle von Angst schnürte ihm fast das Herz ab. War er vielleicht doch der Mörder?
    Nein. Sein Wissen entstammte seiner Allgemeinbildung. Zweifellos hatte er neben seinem Medizinstudium entweder Geschichte oder Philosophie gehört. Ihm fiel auf, dass er die Biografien der beiden Autoren auswendig kannte. Diodorus war ein griechischer Historiker, der im ersten Jahrhundert vor Christus gelebt hatte, Ovid ein römischer Dichter, der kurz vor der christlichen Zeitrechnung geboren und aus Rom verbannt worden war, weil er das als unmoralisch angesehene Lehrgedicht Ars amatoria geschrieben hatte.
    Janusz nahm die beiden gesuchten Bücher sowie die zugehörigen Kommentare aus dem Regal. Er suchte sich einen Sessel, sah kurz nach Shampoo, der bereits selig schlummerte, legte seinen Notizblock zurecht und vertiefte sich in die Lektüre.
    Die Geschichte vom Minotaurus kannte er zur Genüge, lediglich ein Detail fiel ihm auf: Die gesamte Sage war von einer Art Stier-Fluch gekennzeichnet. Schon König Minos stammte gewissermaßen von einem Stier ab, weil Zeus bei der Verführung Europas die Gestalt eines Stiers angenommen hatte. Später verfiel die Gattin des Minos den Reizen eines Stieres und gebar ein Monster, das halb Stier halb Mensch war. In dem gesamten Mythos ging es um die Gene von Stieren.
    Ob dieser Umstand eine Bedeutung für den Mörder gehabt hatte? Und noch etwas stellte Janusz fest: Die Sagen von Minotaurus und Ikarus gehörten zusammen. Ikarus war der Sohn von Daidalos, der wiederum für Minos als Baumeister arbeitete und das Labyrinth des Ungeheuers entworfen hatte. Daidalos war es auch, dem Ariadne den Trick mit dem roten Faden verdankte.
    Tatsächlich war es so, dass die Sage von Ikarus und Daidalos sozusagen die Fortsetzung der Geschichte des Minotaurus bildete. In seiner Wut darüber, dass Daidalos zur Flucht von Theseus beigetragen hatte, hatte Minos den Baumeister und seinen Sohn Ikarus in das eigene Labyrinth eingesperrt. Aus diesem Gefängnis flüchteten Vater und Sohn, indem sie sich aus Wachs und Federn Flügel bauten.
    Lag ein tieferer Sinn hinter diesen Sagen? Warum hatte der Mörder ausgerechnet diese Geschichten ausgesucht? Der Chronologie folgte er jedenfalls nicht, denn er hatte Ikarus vor dem Minotaurus getötet. Hatte er vielleicht noch andere, von Sagen inspirierte Morde begangen?
    Als Janusz seinen Block zuklappte, fiel ihm plötzlich eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden Geschichten auf. Jedes Mal handelte es sich um einen Vater und einen Sohn.
    Minos und der Minotaurus. Daidalos und Ikarus. Ein jeweils mächtiger oder geschickter Vater und ein Sohn, der entweder ein Ungeheuer oder ungeschickt war.
    Hatte der Mörder die Sagen wegen der Vater-Sohn-Beziehung ausgesucht? Enthielten die Morde eine Botschaft? War er vielleicht selbst ein ungeheuerlicher Sohn? Oder ein wahnsinnig gewordener Vater, der mit seinen Opfern seine Ersatzkinder vernichtete?
    Janusz warf einen Blick auf die Uhr im Lesesaal. Es war vier. Draußen wurde es langsam dunkel. Er ärgerte sich, dass er über den Büchern so viel wertvolle Zeit verloren hatte. Besser wäre es gewesen, sich

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