Der Ursprung des Bösen
glatter, undurchschaubarer Buddha. Schließlich atmete er vernehmlich aus, griff unter seine lederne Schreibtischunterlage und zog ein weißes Blatt hervor. Anaïs sah, dass es dickes, edles Papier war. Altmodisches Papier, auf dem man früher zu Bällen einlud oder Gnadengesuche ablehnte.
»Was machen Sie?«
»Ich entbinde Sie, Frau Hauptkommissarin.«
»Nehmen Sie mir den Fall weg?«
»Nein, ich ent-bin-de Sie«, erwiderte er, indem er die Silben deutlich voneinander trennte. »Hören Sie doch zu! Sie fahren nach Marseille. Artikel 18 § 4 der Strafgesetzordnung besagt, dass der Untersuchungsrichter den ermittelnden Beamten kreuz und quer durch Frankreich schicken kann, wenn es der Wahrheitsfindung dient.«
Anaïs hatte das ungute Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es ging zu leicht .
»Und mein Team? Führt es die Ermittlungen hier in Bordeaux weiter?«
»Drücken wir es einmal so aus: Ihr Team wird den neuen Verantwortlichen und seine Gruppe unterstützen.«
So sah es also aus. Der Beamte hatte sie die ganze Zeit reden lassen, obwohl die Würfel längst gefallen waren. Mit Sicherheit war auch Deversat am Vorabend längst informiert gewesen. Sie hätte herumbrüllen, sich wehren und türenknallend den Raum verlassen können, aber im Grunde war es ihr egal. Wichtig war nur, dass sie nach Marseille fahren durfte.
»Wer ist der neue Verantwortliche?«
»Mauricet. Er verfügt über eine fundierte Erfahrung.«
Anaïs musste unwillkürlich lächeln. Im Büro wurde Mauricet nur »Totengräber« genannt, weil er sich immer auf Stellen in der Nähe von Friedhöfen bewarb. Seit dreißig Jahren besserte er sein Gehalt damit auf, dass er die gerichtliche Leichenschau ausübte, für die ein Kommissar eine Prämie erhält. Auf jeden Fall war er nicht der aufgeweckte, begabte Polizist, den sie gebraucht hätten, um einem überdurchschnittlich intelligenten Mörder das Handwerk zu legen.
La Gall schob ihr das Blatt über den Tisch. Als sie danach greifen wollte, ließ er seine Hand darauf fallen.
»Diese beiden Männer in Schwarz, die unten im Baskenland geschossen haben – was halten Sie von denen?«
Anaïs dachte an das einzige Indiz, das sie für sich behalten hatte: an den Namen der chemisch-pharmazeutischen Konzerngruppe Mêtis, die möglicherweise an dem Doppelmord an dem Fischer und seiner Frau beteiligt war.
»Dazu kann ich eigentlich nichts sagen«, log sie. »Es sei denn vielleicht, dass der Fall weitere Kreise ziehen könnte, als wir bisher vermuten.«
»Weite Kreise? Inwiefern?«
»Es ist noch zu früh, dazu etwas zu sagen, Herr Ermittlungsrichter.«
Er ließ das Blatt los. Anaïs nahm es vom Schreibtisch und las es durch. Es war ein Passierschein für den Südosten Frankreichs. Sie faltete es und steckte es ein. Der Räucherstäbchenduft verlieh der Szene einen merkwürdig religiösen Anstrich.
»Zwei Tage, gerechnet ab morgen«, erklärte Le Gall und stand auf. »Morgen ist Freitag. Am Montag bringen Sie mir Mathias Freire her, und zwar in Handschellen und mit einem unterzeichneten Geständnis. Andernfalls brauchen Sie gar nicht erst zurückzukommen.«
D u hast dich verarschen lassen. Echt, der Kerl hat dich total zum Narren gehalten.«
Seit zwei Stunden suchten Shampoo und Janusz in Marseille nach Fer-Blanc, ohne auch nur den geringsten Hinweis zu finden. Und ebenfalls seit zwei Stunden nervte Shampoo mit seiner ewig gleichen Litanei.
»Fer-Blanc ist sicher schon längst tot und begraben. Seit Monaten hat ihn niemand mehr gesehen. Bestimmt hat Claude ihn im Leichenschauhaus gesehen und jetzt die Geschichte erfunden, um dir Geld aus der Tasche zu leiern.«
Janusz lief weiter, ohne zu antworten. Er neigte fast dazu, Shampoo recht zu geben, wollte sich aber nicht entmutigen lassen. Sobald ihn die Hoffnung endgültig verließ, würde er sich auf den Bürgersteig setzen und darauf warten, dass man ihn festnahm. Fer-Blanc war seine letzte Chance weiterzukommen.
Zunächst waren sie zum Club Pernod zurückgekehrt, allerdings vergebens. Dann hatten sie einen Umweg über die Place Victor-Gelu genommen, doch auch dort hatte man Fer-Blanc seit Ewigkeiten nicht gesehen. Über die Canebière ging es weiter zur Kirche Saint-Vincent-de-Paul. Fer-Blanc blieb verschwunden. Am Théâtre du Gymnase waren sie in eine Schlägerei zwischen zwei Banden geplatzt und geflüchtet, ohne Fragen zu stellen.
Nun waren sie auf dem Weg zur Wärmestube Marceau, wo sie sich noch einmal erkundigen und einen heißen Kaffee
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