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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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trinken wollten. Allmählich wurde es dunkel. Janusz spürte, wie er immer ängstlicher wurde, je mehr das Licht schwand. Er ertappte sich, dass er bei jedem Sirenenklang zusammenzuckte. Wenn jemand ihn länger ansah, senkte er den Kopf. Bullen, Mörder und die Aussteiger von Bougainville – alle waren sie ihm auf den Fersen und ganz kurz davor, ihn zu finden.
    Endlich erreichten sie die Wärmestube. Die Sozialarbeiter hatten einen Karaoke-Nachmittag organisiert. Beim Anblick der Obdachlosen, die mit ihren zahnlosen Mündern Chansons blökten, prallte Janusz zurück.
    »Geh du rein«, sagte er zu Shampoo. »Ich warte lieber draußen.«
    Obwohl ihm nach dem zweistündigen Fußmarsch eigentlich warm war, schlotterte er in seinen Klamotten. Er stellte sich unter den Torbogen, der zur Wärmestube führte, und vertiefte sich zum soundsovielten Mal in den Autopsiebericht.
    Plötzlich hörte er etwas. Ein paar Meter entfernt saß ein Mann in der Dunkelheit. Janusz kniff die Augen zusammen und musterte den Kerl, der einen abgenudelten Pullover zu einer fleckigen Pyjamahose trug. Seine Füße steckten in zwei Plastiktüten, sein Gesicht war so weiß wie das eines Clowns. Allerdings eines Clowns, der eine ordentliche Abreibung bekommen hatte. Sein linkes Auge war blutunterlaufen, und eine Wange wurde von einem riesigen Hämatom verunstaltet.
    »Wir sind dabei, uns zu verändern«, murmelte der Mann unter großer Mühe.
    Er trank aus einer grauen Plastikflasche, die er mit beiden Händen halten musste. Es sah aus, als pichelte er Terpentin, doch es war offenbar einfach eine Weinsorte, die Janusz nicht kannte.
    »Wir verändern uns, Mann.«
    »In was denn?«, erkundigte sich Janusz.
    »Die Stadt ist eine Krankheit. Ein Leprageschwür«, fuhr der Mann fort, als hätte er nichts gehört. »Wir treiben uns darin herum und werden von ihrem Dreck, ihrem Gestank und ihren Umweltgiften angesteckt. Wir werden zu Teer, zu Auspuffgasen und zu Reifengummi …«
    Janusz hatte keine Kraft mehr, über das Delirium hinwegzuhören. Er war so müde, dass er sich so durchlässig fühlte wie ein Schwamm. Der Mann erschien ihm wie ein Orakel. Ein Teiresias der Straße. Er betrachtete seine Hände. Schon wurde seine Haut zu Asphalt und sein Atem zu Stickstoffdioxid.
    »Grüß dich, Didou.«
    Shampoo stand unter dem Torbogen. Der andere Mann antwortete nicht, sondern verschanzte sich mit säuerlicher Miene hinter seiner Flasche.
    »Kennst du ihn?«, fragte Janusz.
    »Jeder kennt Didou. Er hält sich für einen Seher.« Shampoo senkte die Stimme. »Aber er ist auch nur ein Bekloppter. Allerdings ziemlich gefährlich, denn er prügelt sich mit allen, denen seine Vorhersagen nicht gefallen.«
    Janusz war Shampoo dankbar, dass er ihn mit wenigen ernüchternden Worten aus seinen Fantasien gerissen hatte. Schnell vergaß er den Spinner im Pyjama.
    »Irgendwas Neues?«, erkundigte er sich.
    »Null Komma nix. Aber sag mal, hast du keinen Hunger?«
    Shampoo hatte rosa Bäckchen. Wahrscheinlich hatte es beim Karaoke nicht nur Kaffee gegeben. Janusz Magen knurrte zum Erbarmen, doch es war ihm nicht möglich, sich noch einmal in den öffentlichen Garküchen zu zeigen.
    Als wüsste er um seine Befürchtungen, verkündete Shampoo:
    »Heute Abend gehen wir ins Restaurant.«
    »Echt?«
    »Na, wenigstens beinahe.«
    Zehn Minuten später betraten sie den Hinterhof einer Fast-Food-Kette. Es stank fürchterlich. Shampoo tauchte in einen der Müllcontainer ab.
    Janusz wurde schlecht. Der Hinterhof erinnerte ihn an den Ort, wo er sich am Tag zuvor Wein über den Kopf geschüttet hatte. Es kam ihm vor, als wären seit dieser ekelhaften Taufe mindestens hundert Jahre vergangen.
    Shampoo holte massenweise in Plastik verpackte Lebensmittel aus dem Container.
    »Es ist angerichtet«, grinste er und warf Janusz seine Schätze zu.
    »Tomaten!«, zählte er auf. »Brötchen! Käse! Schinken!«
    Hin und her gerissen zwischen Hunger und Abscheu fing Janusz die Päckchen auf.
    »Und alles Bio«, trumpfte Shampoo zu guter Letzt auf.
    Janusz öffnete einen der Beutel und biss in ein kaum aufgetautes Brötchen. Es schmeckte ihm unglaublich gut. Sein Magen reagierte mit Dankbarkeit. Er öffnete weitere Beutel und aß Schinken, Käse und Gurkenscheiben. Mit jedem Bissen wurde ihm das Elend bewusst, in dem sie lebten. Zwei Männer, die vor einer Mülltonne kauerten, mit bloßen Fingern Essen in sich hineinstopften und dabei grunzten. Sie waren nicht anders als Ratten, die in der Stadt

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