Der Ursprung des Bösen
Marseille?«
»In etwa zwei Stunden bin ich dort.«
»Dann wünsche ich Ihnen schöne Ferien. Ich entziehe Ihnen nämlich mit sofortiger Wirkung die Zuständigkeit für den Fall. Vergessen Sie die ganze Geschichte und machen sich ein paar schöne Tage am Mittelmeer. Sobald Sie wieder zurück sind, unterhalten wir uns.«
D er Abschied zwischen Janusz und Shampoo fiel zwar nicht überschwänglich herzlich aus, aber Janusz ließ einen Hundert-Euro-Schein springen.
Nach einer ausgiebigen Reinigung in einem öffentlichen Bad in der Rue Hugueny kehrte er zum Bahnhof zurück und holte seine bürgerliche Kleidung aus der Gepäckaufbewahrung.
Jetzt bewegte er sich in einer wundersamen Welt, in der ihn niemand erkannte oder auch nur bemerkte. Fast glaubte er, dass er unsichtbar geworden war. Der vom Mistral reingefegte Himmel strahlte kobaltblau, die Sonne ähnelte einer Kugel Eis. Die Gewalt der vergangenen Nacht erschien ihm unendlich fern.
In der leeren Bahnhofstoilette zog er sich um. Nicht einmal der Gestank und die Enge störten ihn – da hatte er Schlimmeres erlebt. Er genoss den weichen Stoff seiner Anzughose und das frische Hemd.
Janusz verließ die Kabine und warf die Pennerklamotten in den nächsten Mülleimer. Nur seine beiden Schätze nahm er mit: das Eickhorn-Messer und den Autopsiebericht von Tzevan Sokow. Nachdem er sich die Nummer des Berichts – K095443226 – und den Namen der Ermittlungsrichterin – Pascale Andreu – aufgeschrieben hatte, verstaute er die Akte in seiner Reisetasche. Das Messer ließ er hinten in seinen Hosenbund gleiten.
Immer noch waren die Toiletten leer. Janusz zog sein Jackett an und betastete die leeren Taschen. Die Ausweispapiere von Mathias Freire befanden sich ganz unten in der Reisetasche. Falls er irgendwann angehalten würde, konnte er immer noch einen falschen Namen angeben. Er würde einfach irgendetwas erfinden, um Zeit zu gewinnen. Nur seinen Notizblock steckte er in die Innentasche.
Vor einem Spiegel stellte er fest, dass er wieder menschliche Züge angenommen hatte. Er schlüpfte in seinen Regenmantel und wollte gerade die Schuhe anziehen, als ein Wachmann mit Hund die Toiletten betrat.
Der Mann sah die Tasche und bemerkte, dass Janusz in Socken vor ihm stand.
»Unterlassen Sie das bitte. Der Bahnhof ist keine Umkleidekabine.«
Janusz hätte ihm um Haaresbreite eine Abfuhr erteilt, wie es vielleicht Mathias Freires Art gewesen wäre. Doch im letzten Moment besann er sich eines Besseren.
»Ich tue es für meine Arbeitssuche, Monsieur«, sagte er demütig.
»Verschwinde!«
Janusz nickte unterwürfig, schlüpfte in seine Schuhe, griff nach seiner Tasche und ging zur Tür. Der Wachmann blickte ihm misstrauisch nach. Janusz grüßte und verließ die Toiletten.
Langsam ging er zum Taxistand. Mit jedem Schritt gewann er ein Stück seiner Würde zurück.
Er war wieder unter Menschen.
I n der Nähe des alten Gerichtsgebäudes ließ Janusz sich absetzen, bezahlte und ging langsam auf das Bauwerk zu. Mit seinen Säulen und dem Dreiecksgiebel erinnerte es an eine verkleinerte Version der Nationalversammlung in Paris. Der Taxifahrer hatte gesagt, dass sich der Eingang zum Landgericht an der Rückseite des Justizpalastes befand.
Janusz ging um den Gebäudekomplex herum. Ein Fußgängerweg führte zum Eingang des Gerichts, der sich hinter einem roten Metallgitter befand. Sein Plan war ganz einfach. Er wollte die Mittagszeit abwarten, das Gebäude betreten, in das Stockwerk gehen, wo die Richter ihre Büros hatten, sich in das Büro von Pascale Andreu schleichen und die Akte über den Ikarus-Mord stehlen.
Was allerdings so simpel klang, erwies sich dann als Mission Impossible .
Das Gittertor wurde von Polizisten bewacht. Janusz spähte zum eigentlichen Eingang hinüber. Vor der Tür befand sich eine Sicherheitsschleuse, wo jede Tasche und jeder Aktenkoffer durchleuchtet wurden. Besucher mussten unter einem Metalldetektor hindurchgehen und ihren Ausweis vorzeigen. Man ging eben nicht in ein Gerichtsgebäude wie in irgendeinen Laden.
Janusz machte sich auf den Weg, den gesamten Komplex zu umrunden, weil er Zeit zum Nachdenken brauchte. In der Rue Grignan jedoch erwartete ihn eine Überraschung. Es gab dort nämlich einen weiteren Eingang, der den Angestellten vorbehalten war. Richter und Anwälte gingen dort völlig selbstverständlich ein und aus, ohne von Detektoren überprüft zu werden, und manchmal sogar, ohne ihre Zugangsberechtigung zu zeigen.
Diese Tür war
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