Der Ursprung des Bösen
Andreu.
Janusz spähte nach rechts und links. Der Flur war leer. Er klopfte. Nichts rührte sich. Er klopfte erneut, dieses Mal entschlossener. Von drinnen war kein Laut zu hören. Er streifte die Handschuhe über, schloss die Augen und drückte die Klinke. Kaum zu glauben, aber die Tür war nicht verschlossen.
Eine Sekunde später stand er drinnen, schloss lautlos die Tür, zwang sich, ruhig zu atmen, und begann das Büro zu inspizieren.
Pascale Andreus Arbeitsplatz erinnerte an eine Baubaracke. Die Wände waren mit Plastik verkleidet, der Teppich sah billig aus, die Möbel bestanden aus Metall. An einer Seite des Raums befand sich ein Fenster, auf der anderen Seite war eine Tür, hinter der vermutlich die Sekretärin saß.
Janusz wandte sich dem Schreibtisch zu, der sich unter Aktenbergen bog. Er überlegte. Falls die Polizei von Bordeaux bereits in Marseille angefragt hatte, konnte es sein, dass die Akte Tzevan Sokow bereits hervorgeholt worden war und irgendwo obenauf lag. Er stellte den Aktenkoffer ab, holte seinen Notizblock aus der Innentasche seines Jacketts und suchte nach der Vorgangsnummer im Fall Sokow. K095443226. Er merkte sich die letzten Ziffern – alle Akten begannen mit dem gleichen Code aus Zahlen und Buchstaben – und begann die Aktenrücken zu überprüfen. Aber keines der Dossiers trug die richtige Nummer. Aufs Geratewohl suchte er weiter, inspizierte Schnellhefter und Umschläge und wühlte in Notizen. Doch er wurde nicht fündig.
Die Suche im rechten Schrank blieb ebenfalls ergebnislos. Die Nummer 443226 war unauffindbar. Tzevan Sokow war im Dezember ermordet worden; damit war der Fall noch zu heiß, um in den Archiven zu verschwinden, aber bereits so alt, dass er sich vermutlich nicht mehr unter den aktuellen Ermittlungsakten befand. Vielleicht bei der Sekretärin?
Janusz ging ins Nebenzimmer. Der Raum war etwa ebenso groß wie der erste und mit mehreren Schiebetürschränken möbliert, die unter den Papiermassen zusammenzubrechen drohten. Janusz begann mit dem ersten Schrank links und überprüfte von oben nach unten die Aufschriften auf den Rücken der Ordner.
Er hatte gerade den dritten Schrank erreicht, als es klopfte. Janusz erstarrte. Wieder pochte es leise. Janusz schien an Ort und Stelle festgefroren. Angstvoll beobachtete er die Klinke, die vorsichtig betätigt wurde.
Wie durch ein Wunder jedoch hatte die Sekretärin ihre Tür abgeschlossen. Zunächst fühlte Janusz sich erleichtert, bis ihm einfiel, dass der Besucher es vielleicht an der Tür nebenan probieren würde. Dann allerdings saß er ganz schön in der Tinte. Er hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende geführt, als er wieder ein Klopfen hörte. Dieses Mal ein Stück weiter weg.
»Frau Richterin?«
Die Klinke quietschte leise. Jemand betrat das Büro. Janusz hielt den Atem an. Er spürte die Person auf der anderen Seite der Wand geradezu, als wäre das Gemäuer dünn wie Papier. Sein Herz schien stillzustehen.
Er hörte – oder glaubte zumindest zu hören –, wie ein Umschlag oder eine Akte auf den Schreibtisch gelegt wurde. Schritte entfernten sich, das Schloss klickte leise. Der Besucher war gegangen.
Janusz tastete sich zu einem Stuhl und sank in sich zusammen. Dabei berührte er mit dem Rücken ein Regal. Mehrere Aktenordner polterten mit fürchterlichem Lärm zu Boden.
Als er sich bückte, um sie aufzuheben, entdeckte er die gesuchte Zahlenreihe und den Namen: K095443226 TZEVAN SOKOW. Quer über das Deckblatt verlief ein Stempel, der die Akte als Kopie auswies.
Janusz streifte die Gummibänder ab, nahm die einzelnen Heftstreifen aus der Akte und stopfte sie in seine Aktentasche. Seine Hände flatterten, doch gleichzeitig fühlte er sich unbesiegbar. Er hatte es geschafft. Wieder einmal! Wie beim ersten Mal im Büro von Anaïs Chatelet. Jetzt musste er es nur noch schaffen, aus diesem Plastikbunker wieder hinauszukommen.
E r folgte dem gleichen Weg in umgekehrter Richtung. Als er den Aufzug holte, hinterließ er einen verschwitzten Abdruck auf dem Knopf. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden … Jedes Geräusch kam ihm wie verstärkt vor. Ein entfernter Husten, das Mahlen des Aufzugmotors, das Klirren einer Glastür. Und doch surrte es dumpf in seinem Kopf, als befände er sich tief unter Wasser.
Der Aufzug kam nicht. Am liebsten wäre er zu Fuß hinuntergegangen, aber er wusste nicht, wo sich das Treppenhaus befand. Plötzlich öffneten sich die Aufzugtüren, und drei Männer stürmten heraus.
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