Der Ursprung des Bösen
Selbstverständlichkeit geantwortet. Oder war es Durchtriebenheit? Janusz fragte sich beunruhigt, ob er überhaupt ein vernünftiges Wort aus diesem Todgeweihten herausbringen würde. Und dafür hatte er den ganzen langen Weg zurückgelegt! Um einen uralten Mann zu treffen, der den Verstand verloren hatte und sich seinen Lebensabend damit versüßte, andere Leute zum Narren zu halten! Gerne hätte Janusz ein wenig Mitleid für den Spinner empfunden, doch er fragte sich bang, wie sein eigenes Leben weitergehen würde, wenn er das Hospiz ohne neue Informationen verließe.
»Bist du gekommen, um mich umzubringen?«
Janusz, der den Eindruck hatte, dass sich alles ständig wiederholte, antwortete erneut:
»Warum sollte ich?«
»Du hast recht«, lachte der alte Mann trocken, »bei dem bisschen, das mir noch bleibt …«
Fer-Blanc schnalzte mit den Lippen und sagte leise:
»Ich gehe gern dort spazieren.«
Janusz beugte sich vor und spitzte die Ohren.
»Ich gehe immer früh am Morgen hin, wenn die Sonne aufgeht. Im Winter ist das ungefähr um acht.«
Fer-Blanc verstummte.
»Was hast du an diesem Tag dort gemacht?«, fragte Janusz vorsichtig.
Der Alte hob eine Augenbraue. Janusz erkannte den gierigen Blick in seinen Augen.
»Hast du etwas zu trinken für mich?«
Daran hätte Janusz denken müssen. Auch ehemalige Penner tickten eben so.
»Erzähl mir einfach alles. Danach besorge ich dir Wein«, log er.
»Quatsch!«
»Erzähle.«
Fer-Blancs Mund bewegte sich. Er schien auf etwas zu kauen. Vielleicht waren es die Worte, die er bald ausspucken würde.
»Ich habe eine Gabe«, erklärte er schließlich. »Ich kann spüren, wenn Leute bald sterben müssen. Es ist wie eine magnetische Störung in der Luft. Ich spüre es mit dem Eisen, das in meinem Gehirn steckt.« Er deutete auf seinen Schädel. »So ähnlich wie Wassersucher mit ihrer Wünschelrute, weißt du?«
»Verstehe. Aber an diesem Morgen ist in der Felsbucht ein Mann gestorben.«
»Ich bin dem Pfad bis zum Strand gefolgt. Da waren viele Algen und angespültes Zeug …«
Fer-Blanc verstummte erneut und begann wieder zu kauen. Obwohl er in der prallen Sonne lag, schlotterte er unter seiner Decke. Verkehrslärm drang zu ihnen hinauf. Und in diesem Augenblick wurde Janusz von Mitgefühl überwältigt. Er erlebte die letzten Momente im Leben eines vergessenen Obdachlosen. Möglicherweise waren die Bemühungen der Büßerbrüder doch nicht vergeblich. Sie sorgten dafür, dass nicht nur reiche Geldsäcke die Chance hatten, unter der Sonne Nizzas ihr Leben auszuhauchen.
»Was hast du am Strand gesehen?«
»Nicht am Strand. Auf den Felsen.«
Der alte Mann blickte starr vor sich hin, als würde er die Szene noch einmal vor sich sehen. Seine fiebrigen grauen Augen waren so vertrocknet wie geöffnete Austern in der Sonne.
»Da war ein Engel. Ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln. Es war wunderschön. Großartig. Aber der Engel brannte. Er war zu nah an die Sonne geraten …«
Fer-Blanc hatte zwar vielleicht nicht mehr alle Tassen im Schrank, doch er hatte den Mord vor allen anderen gesehen. Janusz begann zu zittern, obwohl die Sonne ihm den Rücken wärmte. Er beugte sich nach vorn und musste sich zusammenreißen, um den Alten nicht zu schütteln. Da war es – das, wonach er suchte!
»War außer dem Engel noch jemand dort? Hast du jemanden gesehen?«
Der alte Mann fixierte Janusz mit seinen glasigen Augen.
»Ja, da war ein Mann.«
»Und was tat dieser Mann?«
»Er betete.«
Diese Antwort hatte Janusz nicht erwartet.
»Er betete?«
»Er kniete neben dem Engel und wiederholte immer das gleiche Wort.«
»Welches Wort, Fer-Blanc? Welches Wort?«
»Ich konnte es nicht hören. Dazu war ich zu weit weg. Aber ich habe es von seinen Lippen abgelesen, wie ich es bei den Taubstummen gelernt habe. Früher war ich nämlich …«
»Was um Himmels willen hat der Mann gesagt?«
Der Krebskranke lachte und hüllte sich tiefer in seine Decke, die er bis zum Kinn hochzog. Janusz hatte ein Gefühl, wie es ein Fisch am Angelhaken haben musste. Plötzlich fiel ihm die Musik auf, die durch die Straße dröhnte. Eine hämmernde, wunderliche, groteske Musik, die wie ein Albtraum nach oben drang. Am anderen Ende der Stadt hatte ein Karnevalsumzug begonnen.
Er zwang sich zur Ruhe und flüsterte in das Ohr des Kranken:
»Fer-Blanc, ich bin von weit her gekommen. Ich brauche diese Information. Was hat der Mann gesagt, als er neben dem Engel betete? Welches Wort hat er immer
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