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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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hast dir deine Farben selbst zusammengemischt«, berichtete Corto. »Du warst dabei mindestens so anspruchsvoll wie Karl. Zuerst hast du die Pigmente gemischt, sie dann zermahlen und mit Terpentin und Leinöl auf die richtige Konsistenz gebracht. Ich weiß noch, dass du ein besonders geklärtes Öl benutzt hast, um die Pigmente miteinander zu verbinden. Das Öl besorgtest du dir in einer Raffinerie, die ihre Kunden eigentlich eher tonnenweise beliefert. Anschließend hast du die Farben in diese Fettspritzen für Traktoren gefüllt, die ich dir höchstpersönlich bei den Bauern der Umgebung besorgte.«
    Narcisse betrachtete die Behälter, in denen schwärzliche, rote und violette Farbreste eingetrocknet waren. Die Kanister, Aluschalen und staubigen Säcke verströmten deutlich wahrnehmbare chemische und mineralische Gerüche. Narcisse betastete Pinsel, strich über Tuben und atmete die markanten Dünste ein, doch er empfand absolut nichts. Ihm kam nicht die geringste Erinnerung. Am liebsten hätte er losgeheult.
    Zwischen den verkrusteten Tuben lag ein Heft, dessen Seiten mit Farbe verklebt waren. Er blätterte es durch. Mit winziger Schrift waren Namen, Ziffern und Prozentzahlen eingetragen.
    »Da drin stehen deine Geheimnisse«, sagte Corto. »Die Mischungen und Verhältnisse, um genau die Farbtöne zu erreichen, die du brauchtest.«
    Narcisse steckte das Heft ein und fragte:
    »Wie habe ich gearbeitet?«
    »Das weiß ich nicht. Zwar haben die Ateliers keine Türen, aber du hattest einen Vorhang mit einem Schild ›Eintritt verboten‹ am Türstock befestigt. Und abends hast du deine Bilder grundsätzlich mit dem Gesicht zur Wand gedreht.«
    »Warum?«
    »Du pflegtest zu sagen, dass du keine Lust hättest, dauernd deine eigene Fresse zu sehen.«
    Narcisse erinnerte sich, dass Daniel Le Guen von der Emmaus-Gemeinschaft ihm erzählt hatte, wie ihm beim bloßen Anblick eines Courbet schlecht geworden war.
    »Habe ich manchmal von Gustave Courbet gesprochen?«
    »Aber sicher. Du sagtest, er wäre dein Meister und dein Mentor.«
    »In welcher Hinsicht?«
    »Das kann ich dir nicht sagen. Vom Aufbau her hatten deine Bilder nichts mit seinen Werken zu tun. Aber Courbet ist ein Meister des Selbstporträts. Ich bin zwar kein Spezialist für diese Periode, aber das Selbstbildnis Der Verzweifelte gehört vermutlich zu den berühmtesten Gemälden der Welt.«
    Narcisse antwortete nicht. Dutzende Selbstporträts fielen ihm ein. Sein kulturelles Gedächtnis funktionierte einwandfrei. Dürer. Van Gogh. Caravaggio. Degas. Schiele. Opalka. Aber nicht ein einziges Gemälde von Courbet. Guter Gott! Es genügte also, dass dieser Maler und sein Werk etwas mit seinem persönlichen Leben zu tun hatten, um im schwarzen Loch seiner Krankheit zu verschwinden.
    »Mir fällt gerade ein«, fuhr Corto fort, »dass du vor allem von Courbets Bild Der Verletzte fasziniert warst.«
    »Was stellt es dar?«
    »Der Maler hat sich sterbend dargestellt. Er liegt mit geschlossenen Augen unter einem Baum und hat einen Blutfleck in der Herzgegend.«
    »Warum habe ich mich vor allem für dieses Bild interessiert?«
    »Die Frage habe ich dir auch gestellt. Darauf hast du gesagt: ›Er und ich, wir tun die gleiche Arbeit.‹«
    Noch einmal ging Narcisse durch das Atelier, das seine Höhle, sein Nest und sein Schlupfwinkel gewesen war. Doch er fand nichts Vertrautes wieder. Seine Suche erschien ihm hoffnungslos.
    »Bleib bei uns«, sagte Corto, als ob er Narcisses Verzweiflung gespürt hätte. »Fang wieder an zu malen. Die Erinnerung wird schon …«
    »Morgen früh verschwinde ich. Und ich will mein Geld.«

H aben Sie hier angerufen?«
»Was glaubst du wohl?«
    Anaïs stand vor einem Lagerhaus und wedelte mit ihrem Polizeiausweis vor der Nase eines jungen Mannes mit roten Augen und fettigen Haaren herum. Es war 17.00 Uhr, und sie befand sich irgendwo am Stadtrand von Toulouse, in einem trostlosen Industrieviertel. Bis Toulouse hatte sie zwar nur zwei Stunden gebraucht, aber mindestens noch einmal ebenso lang, bis sie im Labyrinth des Viertels die richtige Adresse ausfindig gemacht hatte.
    Die richtige Adresse war in diesem Fall das Kontrollzentrum des Unternehmens CAMARAS, das Tracker für verschiedene Automarken im Süden Frankreichs überwachte.
    Um 14.30 Uhr hatte Anaïs den Bereitschaftsdienst angerufen. Der Diensthabende zeigte sich überrascht, weil es normalerweise die Versicherungsgesellschaft war, die … Anaïs ließ ihn seinen Sermon nicht

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