Der Ursprung des Bösen
nicht wirklich wichtig zu sein, dass dieses Fahrzeug gestohlen wurde.«
»Bitte keine Handschellen. Keine Handschellen!«
Anaïs sprang mit einem Satz auf den Tisch. Die leichten Modellflugzeuge zerbrachen unter ihren Springerstiefeln. Mit zwölf Jahren war sie einmal Bezirksmeisterin in Gymnastik gewesen. Papas kleine Turnerin . Sie warf sich auf Dussart. Der schrie auf. Beide fielen zu Boden. Anaïs setzte den Mann außer Gefecht, indem sie sich auf seinen Brustkorb kniete und ihm eine geöffnete Handschelle um den Hals presste.
»Gib es endlich zu, Arschloch!«
»Nein!«
»Wer war da?«
Der Mann schüttelte heftig den Kopf. Schweiß und Tränen glänzten auf seinem violett angelaufenen Gesicht. Anaïs verengte den Metallring um seinen Adamsapfel.
»Wer?«
Dussart wurde noch röter. Er bekam keine Luft mehr und konnte nicht mehr sprechen. Sie lockerte die Spannung ein wenig.
»Sie waren zu zweit«, krächzte der Gendarm.
»Die Namen?«
»Keine Ahnung.«
»Haben sie dich geschmiert?«
»Aber nein. Ich brauche kein Geld.«
»Ach was! Und der Kredit für die Hütte? Der fürs Auto? Die Klamotten für die lieben Kleinen?«
»Nein, nein, nein!«
Wieder drückte sie die Handschelle zusammen. Tief im Innern hatte sie schreckliche Angst – Angst vor ihrer eigenen Gewalt und dem Ausmaß ihrer Entgleisung. Die Aufsichtsbehörde würde entzückt über Patrick Dussarts Zeugenaussage sein.
»Jetzt red schon! Warum hast du die Anzeige gefälscht?«
»Sie haben es mir befohlen.«
Anaïs lockerte die Spannung der Handschelle.
»Befohlen?«
»Es waren Offiziere. Sie sprachen von Staatsräson.«
»Trugen sie Uniform?«
»Nein.«
»Haben sie dir ihre Ausweise gezeigt?«
»Nein.«
Dussart stützte sich auf einen Ellbogen und wischte sich die Tränen ab.
»Die Leute waren Offiziere, mein Gott! Ich habe vier Jahre in der Marine gedient und war auf der Charles-de-Gaulle eingesetzt. Ich erkenne einen Vorgesetzten, wenn er vor mir steht.«
»Welche Truppengattung?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wie sahen sie aus?«
»Seriöse Typen im schwarzen Anzug. Militärs haben eine ganz besondere Art, Zivil zu tragen.«
Das war die erste vernünftige Aussage dieses Idioten.
»Sind sie auf die Wache gekommen?«
»Nein. Sie waren am Abend des 17. Februar hier und haben mir in groben Zügen mitgeteilt, was ich zu schreiben und welches Datum ich einzusetzen hätte. Das war alles.«
Die Besucher konnten nicht die Mörder vom Strand von Guéthary sein, weil die Scheißkerle zu diesem Zeitpunkt in Marseille waren und sich an Victor Janusz vergriffen. Aber wer sonst? Kollegen vielleicht? Wie auch immer, schon jetzt war Dussarts Aussage keinen Heller wert. Er würde alles leugnen und sie wegen Misshandlung hinter Schloss und Riegel bringen.
Die Idee mit dem nicht aktivierten Tracker erschien ihr plötzlich sehr viel nützlicher. Sie erhob sich und verstaute die Handschellen.
»Wie geht es jetzt mit mir weiter?«, fragte der Gendarm ängstlich und massierte sich den Hals.
»Halt die Klappe, dann wird schon alles gut gehen«, zischte sie ihm zwischen den Zähnen zu.
Sie verließ die Hütte. Auf der Schwelle stolperte sie, blinzelte in das blendende Licht. Sie zog ihren Blouson zurecht und bürstete die Balsasplitter von ihrer Kleidung. Voller Wut trat sie nach einem Dreirad, das in der Auffahrt herumstand.
Mit ein paar großen Schritten war sie am Tor. An der Haustür standen die Frau und die beiden Kinder und weinten.
Anaïs umklammerte das Gitter.
Auch sie heulte wie ein Schlosshund.
Auf diese Weise würde sie nicht weit kommen.
A lles war so, als ob Narcisse es erst am Vorabend verlassen hätte.
»Ich war mir sicher, dass du zurückkommen würdest«, erklärte Corto.
Nach dem Mittagessen stand Narcisse endlich in seinem eigenen Atelier. Der Psychiater hatte Wert darauf gelegt, ihn zu begleiten. Die Wände des knapp fünfzig Quadratmeter großen Raums waren weder schwarz bemalt noch mit Bleistiftzeichnungen bekritzelt. Was Ordnung und Sauberkeit betraf, reichte er allerdings nicht an Rebeccas Atelier heran.
An der linken Seite lehnten unbenutzte Leinwände. Der Boden war mit bunt beklecksten Planen ausgelegt. Überall stapelten sich Kanister mit Industriefarbe, benutzte Behälter, Säcke mit Farbpigmenten und Tupperdosen. Auf über Böcke gelegten Brettern lagen nicht nur ausgedrückte Farbtuben, sondern merkwürdigerweise auch große Metallspritzen. Pinsel standen wie Sträuße in alten Weißblechdosen.
»Du
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