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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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wieder auflebte. Es war einer dieser grauen Tage, wie sie nur in der französischen Hauptstadt vorkamen. Weder Wolken noch Regen, nur ein fader, feuchter, schmuddliger Vorhang, der sich wie ein ungewaschenes Tuch über die Stadt breitete. Etwas, das weder Anfang noch Ende besaß und das den ganzen Tag so bleiben würde. Er frohlockte. Der Schmutz und die Monotonie schienen ihm seit Ewigkeiten vertraut.
    Der erste auf der Liste verzeichnete Käufer hieß Whalid El-Khoury und wohnte am unteren Ende der Avenue Foch. Narcisse bat den Taxifahrer, vor dem Haus zu warten, und überwand geduldig ein Hindernis nach dem anderen. Den Code der Eingangstür. Den Zugang zum Haus. Die Sprechanlage. Weiter kam er nicht. El-Khoury war abwesend. Narcisse versuchte mit dem Butler zu verhandeln. Ob er vielleicht ein Päckchen in der Wohnung abliefern könne? Er hoffte, auf diese Weise zumindest Zugang zu den Räumen zu bekommen und sein Gemälde sehen zu können. Doch der Diener riet ihm, sein Päckchen beim Hausmeister abzugeben.
    Wieder im Taxi, nannte Narcisse dem Fahrer die Adresse, die der Avenue Foch am nächsten lag. Es war eine Sackgasse an der Avenue Victor Hugo.
    In der kleinen Straße lagen Villen und Wohngebäude sorgfältig hinter Tannen und Zypressen verborgen. Hier lebte man nach dem Grundsatz, möglichst wenig von seinem Reichtum zur Schau zu stellen. Das vornehme Haus von Simon Amsallem jedoch, Narcisses zweites Ziel, machte hier eine Ausnahme. Es stammte aus dem frühen 20. Jahrhundert und war mit üppigem maurischen und italienischen Zierrat in weißem Stuck versehen. Eine Fülle an Türmchen, Kuppeln, Karyatiden, Balkonen und Balustraden ohne Rücksicht auf Ausgewogenheit und Logik. Der Anblick knallte einem entgegen wie ein Champagnerkorken.
    Narcisse sprach an der Sprechanlage vor und wurde sogleich von einem philippinischen Butler in Empfang genommen, dem er seinen Künstlernamen nannte. Wortlos entfernte sich der Diener, um seinen Herrn zu benachrichtigen. Narcisse blieb allein in einem mit schwarzen und weißen Fliesen ausgestatteten Vestibül. An den Wänden hingen Gemälde, die von einfachen LED-Bändern beleuchtet wurden. Art Brut, und zwar vom Feinsten.
    Ein großes Werk, das aus mit Bleistift bemalten Verpackungskartons bestand, stellte die Luftansicht eines von Straßen und Wegen durchzogenen kleinen Dorfes dar. Wenn man sich weit genug entfernte, erkannte man, dass die Gassen das Gesicht einer Hexe bildeten, die mit offenem Mund das Dorf zu verschlucken drohte. Ein Triptychon in Kreide zeigte das gleiche, durch drei unterschiedliche Ausdrücke verzerrte Gesicht: Bestürzung, Angst, Entsetzen. Die unterlaufenen Augen, düsteren Schatten und malträtierten Hintergründe schienen wie mit Blut gemalt.
    Andere, im Stil amerikanischer Comics der 1960er Jahre gemalte Bilder zeigten Szenen aus dem französischen Alltag: Einkäufe auf dem Markt, den Aperitif im Café und Picknicks im Grünen. Die Gemälde hätten tröstlich wirken können, aber die dargestellten Personen schienen zu schreien, zeigten ihre Zähne und waren umgeben von verwesenden Leichen und gehäuteten Tierkadavern.
    »Du bist also Narcisse?«
    Er drehte sich um und stand einem korpulenten Mann im fortgeschrittenen Alter gegenüber, der ein weißes Jackett, eine Ray-Ban-Pilotenbrille und eine im ergrauenden Haar festgesteckte Kippa trug. Er schwitzte und hatte sich ein weißes Handtuch um den Hals geschlungen. Vermutlich hatte er Sport getrieben. Narcisse fragte sich, ob er wohl die Kippa während der Übungen aufbehalten hatte.
    Der Mann schloss ihn in die Arme, als hätten sie sich lange Zeit nicht gesehen, um ihn anschließend lachend zu mustern.
    »Ich freue mich, dich endlich einmal in natura zu sehen, mein Junge. Immerhin schlafe ich schon monatelang mit deinem Konterfei über meinem Bett.«
    Mit einer Handbewegung lud er ihn in ein großes Wohnzimmer zur Rechten ein. Narcisse betrat das Zimmer, dessen Stil der überladenen äußeren Erscheinung des Hauses entsprach. Sofas aus goldbraunem Samt. Weiße Fellkissen. Orientteppiche, die kreuz und quer auf dem weißen Marmorboden lagen. Auf dem Kaminsims thronte eine überdimensionale Menora, der siebenarmige Leuchter der Juden.
    Und überall fand sich Outsider Art. Skulpturen aus Konservendosen. Naive Gemälde auf wiederverwendeten Materialien. Skizzen mit mysteriösen Inschriften. Narcisse musste an eine Blaskapelle denken, die aus Leibeskräften spielte, aber nichts als Misstöne

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