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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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sich eine Frau an die Schulter des Malers. Sie sah aus wie ein Geist. Das Ganze wirkte wie die gefälschten Fotos, die man zu Beginn des 20. Jahrhunderts angeblich bei spiritistischen Séancen aufgenommen hatte.
    Die Frau war unter der Farbe verschwunden.
    Anaïs bedankte sich bei dem Galeristen und verließ die Galerie mit unsicheren Schritten. In ihrer Verwirrung begriff sie, dass sie eine Möglichkeit mehr fürchtete als alle anderen.
    Sie hatte Angst, dass Narcisses Gemälde ebenfalls den Geist einer Verflossenen verbargen.

S ylvain Reinhardt lebte im Dunkeln.
Er hatte seine Tür nur vorsichtig geöffnet und war ein Stück aus dem Schatten aufgetaucht, ließ aber die Sicherheitskette vorgelegt. Wandleuchter verbreiteten im Treppenhaus ein schwaches Licht, das an Paraffinlampen in einem Bergwerk erinnerte.
    »Ich kenne Sie«, sagte der Mann. »Sie sind Narcisse.«
    Narcisse nickte.
    »Ich kaufe niemals direkt von Künstlern«, warnte Reinhardt.
    Narcisse trug sein in Luftpolsterfolie gewickeltes Gemälde unter dem Arm.
    »Ich will nichts verkaufen.«
    »Worum geht es dann?«
    »Dürfte ich vielleicht kurz reinkommen?«
    Widerwillig hakte Reinhardt die Kette los, öffnete die Tür und zog sich in die Diele zurück. Narcisse tauchte in die Dunkelheit ein. Er erahnte den Raum, das Parkett, die hohen Decken und die weitläufigen Linien einer von Haussmann entworfenen Wohnung.
    Reinhardt schloss die Tür und legte die Kette wieder vor. Langsam gewöhnten sich Narcisses Augen an die Dunkelheit. Er stand in einem riesigen, zweigeteilten Wohnzimmer. Die Fensterläden waren geschlossen, die Möbel mit grauen Hussen abgedeckt, und es herrschte eine geradezu erstickende Hitze.
    »Was wollen Sie?«
    Der Tonfall des Mannes war aggressiv. Narcisse betrachtete ihn genauer. Er trug eine verwaschene Jeans, einen Pullover und Bootsschuhe. Sein Gesicht konnte Narcisse noch nicht erkennen.
    »Ich möchte Sie kennenlernen«, begann Narcisse vorsichtig.
    »Ich vermeide jeglichen Kontakt mit den Künstlern, deren Werke ich kaufe. Eine meiner Grundregeln! Ganz gleich, was allgemein behauptet wird – die künstlerischen Gefühle müssen neutral, objektiv und sachlich bleiben.«
    Reinhardt wies auf den rechten Teil des Wohnzimmers. Narcisse wandte sich dorthin. Das Zimmer war zwar nicht unordentlich, wirkte aber vernachlässigt. Überall lag Staub, und es roch, als wäre lange nicht gelüftet worden. Narcisse lief über dunkle Teppiche, die vermutlich schmutzig und mit Haaren bedeckt waren.
    Er ging weiter. Lüster, Sessel und kleine Tische schienen in der Finsternis zu schwimmen. An der rechten Wand hing ein Basrelief, das die Umrisse von Kolossen darstellte und an ägyptische Hieroglyphen erinnerte. Familieneigentum, dachte Narcisse. Die Wände, Möbel und Teppiche gehörten ebenso zu Sylvain Reinhardt wie die Form seiner Nase oder ererbte Ticks seiner Vorfahren. Die Wohnung war ein Ausfluss seines Erbguts.
    Er drehte sich um und lächelte.
    »Sammeln Sie Art Brut?«
    Inzwischen konnte er seinen Gastgeber besser erkennen. Reinhardts Gesicht wirkte tatsächlich wie ein Totenschädel. Die feine, pergamentartige Haut spannte sich über Muskeln und Knochen und zeichnete jede Unebenheit ab. Die Stirn war kahl, die Augen lagen tief in den Höhlen, Kieferknochen und Zähne traten hervor. Es war unmöglich, sein Alter zu schätzen. Wenn man ihn ansah, rechnete man weniger in Jahren als vielmehr in Generationen. Die schiere Dekadenz .
    »Aber natürlich. Sie sehen sie ringsum.«
    Und da sah er sie. Die Bilder waren weder gerahmt noch aufgehängt, sondern nur an der Wand aufgestellt. Im Halbdunkel traten sie gegenüber der düsteren Tapete kaum hervor. Unentwirrbare, in krummen Linien verhaspelte Verschachtelungen, kleine Kreidegestalten mit Vogelköpfen, runde Gesichter mit unzähligen Zähnen.
    »Warum leben Sie hier im Dunkeln?«
    »Wegen meiner Bilder. Das Licht zerstört die Farben.«
    Narcisse fragte sich, ob der Mann scherzte. Seine Aussprache klang hochmütig, als ob jede Silbe ihn anekelte.
    »Das Licht ist die Grundlage der Malerei.«
    Der Satz war ihm einfach entschlüpft. Hier hatte der Künstler gesprochen. Reinhardt antwortete mit einer Art missbilligendem Glucksen.
    Narcisse betrachtete die anderen Bilder. Männer mit Katzengesichtern. Kleine Mädchen, die wie Gespenster aussahen. Masken aus braunem Karton mit weit aufgerissenen Augen.
    »Mein Vater war mit Dubuffet befreundet«, sagte Reinhardt, als wolle er sich entschuldigen.

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