Der Ursprung des Bösen
hier enthält und welche Wirkung es hat.«
Die Geschichte klang abenteuerlich, aber Anaïs entsann sich, dass Unbekannte dem toten Patrick Bonfils im Leichenschauhaus die Nase aufgeschnitten hatten. Womöglich war auch ihm irgendwann ein Implantat eingesetzt worden, das nach seinem Tod entfernt werden musste.
Freire sprach jetzt immer schneller. Wie ein Besessener beteuerte er seine Unschuld. Um jeden Preis wollte er widerlegen, dass er der mythologische Mörder war.
»Ich bin dabei, den Mörder auf eigene Faust zu verfolgen. Ich bin nicht der Mörder – ich suche nach ihm.«
»Aber gefunden hast du ihn noch nicht?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe den Eindruck, dass ich jedes Mal, wenn ich ihm zu nahe komme, das Gedächtnis verliere. Als ob das, was ich entdecke, einen Kurzschluss in meinen Nervenbahnen verursacht. Und dann muss ich wieder ganz von vorn anfangen.«
Anaïs stellte sich vor, was passieren würde, wenn er diese Erklärungen einem Richter vortrüge: Man würde ihn sofort einbuchten. Entweder im Gefängnis oder in einer Anstalt. Sie sah ihn an und konnte immer noch nicht fassen, dass er vor ihr saß, in natura und nicht nur als Vorstellung in ihrem Kopf. So oft hatte sie von ihm geträumt!
Innerhalb von zwei Wochen war er um mehrere Jahre gealtert. Seine glühenden Augen lagen tief in den Höhlen. Seine Nase war gebrochen, verschwollen und verpflastert. Ob er von jeder seiner Persönlichkeiten eine Art Brandzeichen zurückbehielt? Zwar ähnelte er noch dem Psychiater, den sie kennengelernt hatte, aber ein Rest von dem Obdachlosen war nach wie vor spürbar, und auf dem Grund seiner Augen erkannte sie einen Funken Wahnsinn. In ihm war viel mehr Vincent van Gogh als Sigmund Freud.
Noch war es zu früh, um zu erkennen, welches Vermächtnis Arnaud Chaplain hinterlassen würde. Vielleicht eine gewisse Eleganz. Seine Kleidung jedenfalls verriet einen ausgesuchten Geschmack, der mit den anderen drei Persönlichkeiten nicht das Geringste zu tun hatte.
Einem Impuls folgend griff sie nach seiner Hand. Die Berührung fühlte sich so süß an, dass sie die Hand sofort zurückzog, als hätte sie sich verbrannt.
Vor Überraschung geriet Freires Redefluss ins Stocken. Anaïs sah auf die Uhr. Ihnen blieben nur wenige Minuten. Hastig berichtete sie von Mêtis und der militärischen Vergangenheit der Unternehmensgruppe, die sich später der chemischen und pharmazeutischen Industrie zugewandt hatte und zu einem der größten Produzenten von psychotropen Substanzen in Europa geworden war.
Anaïs erwähnte die möglichen geheimen Verbindungen zwischen dem Unternehmen und den Streitkräften und sprach zum ersten Mal eine Vermutung aus, die sich während ihres Gesprächs gefestigt hatte: Sie glaubte, dass Mêtis an ihm, an Patrick Bonfils und sicher auch noch an anderen Versuchskaninchen eine neuartige chemische Substanz erprobt hatte – ein Produkt, das ihre Persönlichkeit spaltete und eine Art Kettenreaktion hervorrief – eine dissoziative Flucht nach der anderen.
Für Freire waren diese Enthüllungen wie Faustschläge mitten ins Gesicht. Und um alles noch schlimmer zu machen, berichtete Anaïs von der Macht des Unternehmens, das sich weder Gesetzen noch der Autorität des Staates beugen musste, weil seine Macht just durch diese Gesetze und die staatliche Autorität gestützt wurde.
Ihre Schlussfolgerung lief darauf hinaus, dass Mêtis sich aus einem bisher noch unbekannten Grund seiner Versuchskaninchen entledigen wollte. Offenbar hatte das Unternehmen Sniper angeheuert, um die betreffenden Personen zu töten – ihn, Patrick Bonfils und sicher noch einige andere, die vermutlich auf einer Art schwarzer Liste standen.
Freire lauschte mit zusammengebissenen Zähnen. Anaïs verstummte. Sie hatte den Eindruck, auf einen Krankenwagen zu schießen. Ihnen blieben nur noch zwei Minuten. Plötzlich kam ihr der Leichtsinn ihres Verhaltens zu Bewusstsein. Sie hatten weder auf Sicherheitskameras noch auf Mikrofone geachtet, die ihr Gespräch vielleicht aufgezeichnet hatten. Und was wäre, wenn die Wärter Freire erkannt hätten oder von außerhalb gewarnt worden wären?
»Es tut mir leid«, sagte Freire schließlich.
Anaïs verstand nicht, was er meinte. Hatte sie ihn nicht gerade ans Messer geliefert? Erst mit einer gewissen Verspätung begriff sie, dass er von den Gefängnismauern sprach, von den Auswirkungen des Falles auf ihre Karriere und von dem Schlamassel, in das sie sich freiwillig gestürzt hatte.
»Ich
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