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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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schlurften vorbei. Der Weg zum Sprechzimmer erschien ihr endlos. Nur ihr Herzschlag trieb sie vorwärts. Ihr war speiübel.
    Plötzlich befand sie sich wieder im gleichen Flur wie am Vortag. Verglaste Räume. Vergitterte Fenster. Türen aus Verbundglas. Doch die Atmosphäre hatte sich verändert. Man hörte Kinderlachen, irgendwo wurde ein Ball gegen die Wand gekickt. Ein Baby weinte. Geräusche, die man eher in einer Kinderkrippe als in einem Gefängnis erwartete.
    Die Aufseherin blieb stehen und öffnete eine Tür.
    Der Mann, der am Tisch saß, drehte sich um.
    Es war nicht ihr Vater.
    Es war Mathias Freire.
    Wie durch ein unerklärliches Zauberkunststück war es ihm gelungen, bis hierher vorzudringen, Kontrollen zu passieren, Identitätsprüfungen über sich ergehen zu lassen und die Eingangsschleusen zu überwinden …
    »Sie kommen hier nie wieder raus«, sagte sie und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.
    »Vertrauen Sie mir«, erklärte er bedächtig.
    Anaïs zog den Kopf zwischen die Schultern, ballte die Fäuste zwischen den Knien und holte tief Luft. Das war ihre Art, tief aus ihrem Innern die Energie zu schöpfen, um eine solche Überraschung zu verdauen. Ihr Äußeres bereitete ihr Kummer. Ungewaschen, unfrisiert und völlig erschöpft.
    Sie hob den Kopf und sagte sich, dass diese Dinge nicht zählten. Wesentlich war er nur, dass er ihr gegenübersaß. Er wirkte abgemagert und verstört. Zwar trug er teure Klamotten, aber sein Gesicht sah aus, als wäre er unter die Metro geraten. Mein Gott – wie sehnsüchtig hatte sie auf diesen Augenblick gewartet! Aber wirklich geglaubt hatte sie nie daran.
    »Wir beide haben eine Menge zu besprechen«, begann er mit ruhiger Stimme.
    Erinnerungsfetzen schossen ihr durch den Kopf. Freire, wie er durch die Eingangshalle des Landgerichts Marseille floh, wie er zwischen den Straßenbahnen in Nizza flüchtete, wie er auf die Mörder in der Rue de Montalembert schoss.
    »Leider haben wir nur eine halbe Stunde Zeit«, fuhr er fort und zeigte auf Uhr, die hinter ihm an der Wand hing.
    »Wer sind Sie heute?«
    »Ihr Bruder.«
    Anaïs musste lachen.
    »Wie haben Sie das mit den Papieren hingekriegt?«
    »Das ist eine lange Geschichte.
    »Ich höre dir zu«, sagte Anaïs und ging damit zum vertraulichen Du über.
    Mathias Freire – sie nannte ihn noch immer so – erklärte, dass er am Syndrom des »Reisenden ohne Gepäck« litt, und berichtete von den drei Persönlichkeiten, deren Leben er bisher gelebt hatte. Seit Januar 2010 war er der Psychiater Freire gewesen, von November bis Dezember 2009 der Obdachlose Janusz und davor, von September bis Oktober, Narcisse, der verrückte Künstler.
    Das meiste war für Anaïs nichts wirklich Neues. Fast alles hatte sie sich bereits selbst zusammengereimt. Doch einiges wusste sie noch nicht. So etwa, dass Freire laut Aussage von Fer-Blanc als Erster bei der Leiche von Ikarus gewesen war. Oder auch, dass das russische Wort »Matrjoschka« eine Schlüsselrolle in diesem Fall zu spielen schien – welche allerdings, das konnte auch Freire nicht sagen.
    »Und welche Identität haben Sie jetzt im Moment?«
    »Ich bin jetzt der Vorgänger von Narcisse. Jemand, der sich Nono nennt.«
    Anaïs lachte nervös auf. Er lächelte sie an.
    »Arnaud Chaplain«, fügte er hinzu. »Der bin ich mindestens fünf Monate lang gewesen.«
    »Und Ihr Job?«
    »Darüber reden wir lieber nicht.«
    Er zählte die Mordanschläge auf, denen er seit seiner Flucht aus Bordeaux entkommen war. Es waren insgesamt fünf. Entweder war er unbesiegbar, oder er hatte einfach nur ein schier unglaubliches Glück gehabt. Aber ganz gleich, wo er hinging und wie seine Identität sich veränderte – die Männer in Schwarz fanden ihn. Sie waren deutlich bessere Ermittler als die Polizei. Zumindest aber agierten sie schneller.
    Die nächste Information erschien Anaïs äußerst wichtig. Nach Freires Festnahme hatte man im Hôtel-Dieu Röntgenaufnahmen seines Kopfes gemacht und dabei ein Implantat unter der Nasenscheidewand gefunden, das er sich selbst entfernt hatte, indem er sich die Nase brach.
    Während er sprach, öffnete er die Hand, in der eine winzige, silbrige Kapsel glänzte.
    »Und was ist das?«
    »Der Arzt im Hôtel-Dieu meinte, es könnte eine Art Mikropumpe sein. Man benutzt sie manchmal bei Epilepsie oder Diabetes. Sie werden unter die Haut verpflanzt und setzen im richtigen Moment die richtige Menge eines Medikaments frei. Wir müssten wissen, was dieses Ding

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