Der Ursprung des Bösen
Gesicht mit irgendeinem schweren Gegenstand zertrümmert hat.«
»Habt ihr ihre Kunden unter die Lupe genommen?«
»Die Ermittlungen gehen gerade erst los. Und ganz ehrlich: Nach mittlerweile sechs Monaten sind die Aussichten, den Täter zu schnappen, ziemlich gering.«
»Und die Wohnung?«
»Wurde durchsucht. Man fand dort auch Fingerabdrücke von deinem Spinner. Sonst nichts, was uns weiterhilft.«
Anaïs klappte die Akte zu.
»Und was ist deine Meinung?«
»Ein verrückter Freier, der genau wusste, was er tat. Oder irgendwelche professionellen Killer.«
»Aber wer könnte sie beauftragt haben? Und warum?«
Solinas machte eine hilflose Geste.
»Klassisch wäre die Nutte, die zu viel wusste.«
Eine mögliche Spur. Trotzdem war sich Anaïs fast sicher, dass die Mörder in den Reihen von Mêtis oder den militärischen Partnern des Konzerns zu suchen waren. Die gleichen Leute, die Patrick Bonfils und seine Frau ermordet und im Leichenschauhaus das Implantat entfernt hatten. Die Jean-Pierre Corto zu Tode gefoltert hatten. War Medina Malaoui über die Versuche des Unternehmens informiert gewesen? Und wenn ja, warum? Worin könnte die Verbindung zwischen einem Escort-Girl und einer medizinischen Versuchsreihe bestehen?
»Es gibt noch eine andere Hypothese«, fuhr Solinas fort.
Anaïs warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Dein Schatz hat sie auf dem Gewissen.«
»Unmöglich.«
»Er wird verdächtigt, die Penner kaltgemacht zu haben. Warum nicht auch eine Kanakenfotze?«
Anaïs schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Das ist doch alles Lüge!«
Solinas lächelte. Das sadistische Grinsen eines Folterers, der eine Wunde quetscht. Anaïs spürte, wie ihr Kinn zitterte. Sie ballte die Fäuste. Bloß jetzt nicht weinen. Schon gar nicht vor diesem Schwein. Ihre Wut half ihr über die Schwäche hinweg.
»Hat er dir gesagt, wonach genau er sucht?«
»Nein.«
»Und wo er sich versteckt?«
»Was glaubst du wohl?«
Der Bulle zuckte die Schultern unter seiner schlecht sitzenden Jacke.
»Hat er dir eine Nummer oder eine Kontaktadresse gegeben?«
»Natürlich nicht.«
»Wie hast du ihm die Informationen über die Malaoui zukommen lassen?«
Anaïs biss sich auf die Unterlippe.
»Vergiss es. Von mir erfährst du nichts.«
Ihre Verteidigung war mehr als dürftig. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie auch nicht mehr Fantasie an den Tag legte als die kleinen Gauner, denen sie tagtäglich in ihrem Büro in Bordeaux gegenübergesessen hatte. Solinas massierte sich den Nacken, als sei ihm ihre Antwort völlig egal.
»Es geht mich ohnehin nichts mehr an«, erklärte er. »Der Fall wurde von der Vermisstenabteilung übernommen.«
Er unterbrach seine Massage und griff mit beiden Händen nach dem Tischrand.
»Mir ist wichtig, den verrückten Mörder zu erwischen – ob es nun Janusz oder ein anderer ist. Bist du mit der anderen Sache weitergekommen?«
»Welcher anderen Sache?«
Er zog ein weiteres Foto aus seiner Aktentasche. Es zeigte die Leiche von Hugues Fernet, dem Riesen von der Brücke Pont d’Iéna.
»Um welchen Mythos handelt es sich in diesem Fall?«
Anaïs sah sich nicht in der Lage, ihn auszutricksen.
»Um die Sage von Uranus, einem der Urgötter. Er wurde von seinem Sohn Kronos entmannt, der dadurch die Macht übernahm.«
Der Polizist beugte sich nach vorn. Seine Stirn unter der Brille furchte sich. Anaïs legte noch einen drauf – nur so würde sie es schaffen, aus diesem Gefängnis herauszukommen.
»Es handelt sich um einen Serienmörder, Solinas. Im August 2009 tötete er in Paris Hugues Fernet. Dabei ließ er sich vom Uranus-Mythos inspirieren. Im Dezember 2009 brachte er in Marseille Tzevan Sokow um und machte ihn zum Ikarus. Im Februar 2010 ermordete er Philippe Duruy und machte ihn zum Minotaurus. Wir haben hier einen mythologischen Mörder – einen einmaligen Fall in der Kriminalgeschichte. Aber um seiner habhaft zu werden, brauchst du mich.«
Solinas saß wie erstarrt da. Er fixierte Anaïs, als wäre sie das Orakel von Delphi und hätte ihm gerade sein Schicksal als Held einer Sage verkündet.
»Nach Ikarus und dem Minotaurus geht es in der Geschichte von Uranus auch wieder um einen Vater-Sohn-Konflikt«, fuhr sie fort. »Es ist zwar eine dünne Grundlage, aber dort müssen wir ansetzen. Unser Mörder ist entweder ein enttäuschter Vater oder ein wütender Sohn. Und jetzt hol mich hier raus, in Gottes Namen! Ich bin die Einzige, die dir helfen kann, diesem Irren das Handwerk zu
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