Der Ursprung des Bösen
Schlüssel.
»Was machst du da?«
Sasha stand auf der anderen Seite der Bar. Ihre hellgrünen Augen waren jadegrün geworden. Er stellte eine Flasche auf den Tresen.
»Einen Cocktail, wie ich ihn mag. Willst du auch einen?«
Ohne ihm zu antworten warf sie einen Blick auf die beiden Kandidaten, die sich auf zwei verschiedene Sofas gesetzt hatten und mit ihrem Cocktail in der Hand ein wenig verloren wirkten. Die Pflicht rief, aber sie war noch nicht mit ihm fertig.
»Was machst du hier, Nono? Was suchst du?«
»Nichts anderes als auch früher schon.«
»Genau. Aber was denn bloß?«
Er öffnete die Flasche und füllte zwei Gläser. Ehe sie kam, hatte er gerade noch Zeit gehabt, die Schlüssel in seine eigene Tasche zu stecken. Die Birkin stand nicht mehr auf dem Tresen, er hatte sie auf den Boden gleiten lassen, was Sasha offenbar nicht bemerkte. Sie sah ihm forschend in die Augen. Gerne hätte er in ihrem Blick Sehnsucht oder verschleierte Trauer erkannt – irgendetwas, das an gute, alte Zeiten erinnerte. Doch er nahm nur Unruhe und unterdrückten Zorn wahr.
»Willst du wirklich keinen Drink?«
Sie schüttelte den Kopf und blickte zur Tür, wo die nächsten Clubmitglieder auftauchten.
»Ich habe mich gerade gefragt, ob Leila heute Abend hier sein wird.«
Sasha funkelte ihn böse an.
»Verschwinde!«
Chaplain hob besänftigend beide Hände. Mit Gläsern in der Hand ging Sasha auf die nächsten Bewerber zu. Er stellte die Tasche wieder auf den Tresen. Als er zur Tür ging, kam ihm Sasha mit ihren Gästen entgegen.
Er schob den Vorhang beiseite und stieß fast mit den nächsten Kandidaten zusammen. Gern hätte er ihnen Glück gewünscht, doch stattdessen murmelte er lediglich:
»Nur Mut.«
E r musste fast zehn Minuten warten, ehe die Eingangstür der Rue de Pontoise Nummer 15 sich öffnete und ein Mieter das Haus verließ. Zitternd vor Kälte schlängelte sich Chaplain durch den Türspalt. Drinnen allerdings stand er vor einem ebenfalls mit einem Code gesicherten Gitter. Es war weiß Gott nicht leicht, in Wohnhäuser einzudringen.
»Scheiße«, murmelte er.
Dann eben wieder warten . Durch die Gitterstäbe blickte er auf einen gepflasterten Hof, der mit winterharten Pflanzen verschönert war. Die Fassaden der Gebäude wirkten nüchtern – gerade Gesimse ohne Zierrat und Balkone mit schmiedeeisernen Gittern. Die Häuser stammten seiner Schätzung nach aus dem 17. oder 18. Jahrhundert.
Das Tor zur Straße öffnete sich erneut. Der Mann, der den Kragen hochgeschlagen hatte, warf ihm einen argwöhnischen Blick zu und klingelte dann an der Gegensprechanlage. Das Gitter öffnete sich. Chaplain folgte dem Mann, der ihn feindselig musterte. Den Briefkästen nach zu schließen wohnte Véronique Artois im Gebäude B in der dritten Etage.
Ein enger Treppenaufgang, der Boden mit Klinkern ausgestattet. Eine schiefe Tür vermittelte Chaplain den Eindruck, Voltaire höchstpersönlich zu besuchen. Vorsichtshalber klingelte er kurz bei Sasha, doch als sich drinnen nichts rührte, drehte er den Schlüssel lautlos im Schloss.
In der Wohnung blickte er auf die Uhr. Seit seinem Aufbruch im Vega hatte er vierzig Minuten verplempert. Sashas Abende verliefen immer nach dem gleichen Ritual. Sieben mal sieben Minuten Dating ergaben insgesamt neunundvierzig Minuten. Hinzu kamen ein paar Anfangsformalitäten, und am Schluss wurden die Vordrucke eingesammelt, auf denen jeder die Nummern der Kandidaten eintrug, die ihn interessierten. Auch Sashas Rückfahrt nach Hause musste er noch einrechnen. Alles in allem waren das gut zwei Stunden.
Damit blieb ihm etwa eine Stunde Zeit, die Wohnung zu durchsuchen.
Auf den ersten, flüchtigen Blick handelte es sich um eine kleine, oberflächlich renovierte Zwei- oder Dreizimmerwohnung. Klinkerboden, Deckenbalken, unregelmäßige, weiß getünchte Wände. Die Wohnung sah so aus, wie er sich die wirkliche Sasha vorstellte: Eine Single-Frau von etwa vierzig Jahren, die vor etwa zehn Jahren auf die Mode der Speed-Datings aufgesprungen war und dank ihres Clubs gerade so überleben konnte.
Er war sicher, dass sie kein anderes Büro besaß, sondern die Abende per Internet von zu Hause aus organisierte, um Geld zu sparen. Auf eine enge Garderobe folgte ein arabisch ausgestattetes Wohnzimmer. Die Wände waren rosa und mandarinfarben gestrichen, an der Decke hingen Kupferlaternen, und am Fenster stand eine mit Kissen übersäte Chaiselongue. Der Anblick schmerzte ihn. Das Möbelstück war das
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