Der Ursprung des Bösen
er einen Strahl durch die Wohnung streichen – vermutlich ein Taclight, das auf eine Waffe montiert war. Trotz seiner Panik schoss ihm die Frage durch den Kopf, wie sie ihn wohl wiedergefunden hatten.
Zweimal schoss er blind in die Wohnung hinein, ehe er vorsichtig aufstand und in die Küchenzeile huschte. Weitere Schüsse folgten.
Der Lampenstrahl glitt durch den Raum, beleuchtete die zerbrochene Scheibe, fuhr über die Regale und suchte in allen Ecken nach ihm. Die Treppe befand sich rechts, genau zwischen dem Angreifer und ihm. Er erkannte, dass er ins Zwischengeschoss hinaufsteigen musste, wenn er mit dem Leben davonkommen wollte. Genau genommen war das seine einzige Chance. Würde er zur Tür laufen, bekäme er zwei oder drei Kugeln in den Rücken, ehe er auch nur die Schwelle erreichte.
Pulvergeruch hing im Raum. Im Hof, hinter den zerrissenen Vorhängen, gingen Lichter an. Stimmen waren zu hören. Die Schüsse hatten ihre Wirkung getan. Sollte er einfach in seinem Versteck warten, bis Hilfe kam? Aber sein Gegner würde sicher keine wertvollen Sekunden verstreichen lassen.
In diesem Augenblick sah er, wie der erste Mörder – der, den er niedergeschossen hatte – sich auf seinen Ellbogen stützte. Um ihn herum hatte sich eine Blutlache ausgebreitet. Der nächste Schuss traf ihn mitten ins Gesicht.
»Michel?«, rief der andere.
Die Anrede mit dem Vornamen verlieh den beiden Mördern eine gewisse Menschlichkeit und damit auch eine Schwäche. Diese Männer hatten Vornamen. Vielleicht sogar Frauen und Kinder.
Vom Taclight geblendet hob der Verwundete den Arm, um seinem Kumpel zu zeigen, wo Chaplain sich aufhielt. Dieser wich noch weiter hinter die Küchenzeile zurück und schoss dreimal in Richtung des Verletzten. Bei den beiden letzten Kugeln sah er, wie der Schädel aufplatzte und Hirnmasse aufspritzte.
Ohne dem anderen Mörder Zeit zum Reagieren zu lassen, sprang er auf und rannte zur Eisentreppe. Der Lichtstrahl fand ihn. Wieder wurde geschossen. Chaplain drückte auf den Abzug, als könnten seine eigenen Kugeln ihn schützen. Als er nach dem Tau griff, das als Geländer diente, sah er einen Funken am Kabel entlangtanzen. Er verbrannte sich. Hastig zog er die Hand zurück und erklomm die Stufen. Bei jedem seiner Schritte sprühten Funken. Kugeln pfiffen durch den Raum. Irgendwann würde er einen Querschläger abbekommen.
Im Zwischengeschoss ließ er sich auf den Boden fallen. Der Lichtstrahl unten irrte in Richtung Treppe. Wieder schoss er, ohne zu zielen, und fragte sich, wie viele Kugeln ihm noch bleiben mochten. Die zwei Magazine in seiner Tasche beruhigten ihn ein wenig. Seine Lippen schmeckten nach Blut.
Verzweifelt suchte er nach einem Versteck. Sein Gegner war dabei, die Treppe zu erklimmen. Chaplain spürte die Vibration der Stufen und hörte das Klicken eines neu eingelegten Magazins. Er hätte das Gleiche tun müssen, aber jetzt war es erst einmal wichtiger, in Deckung zu gehen. Zunächst dachte er an das Bad, doch dort würde der Mörder ihn sicher als Erstes vermuten. Ihm fiel etwas Besseres ein. Er glitt zur entgegengesetzten Seite des Raums und duckte sich zwischen Wand und Bett.
Zusammengekauert und mit angehaltenem Atem überlegte er. Sein Widersacher würde in wenigen Sekunden ebenfalls oben auftauchen, mit seiner Lampe den Raum absuchen und wahrscheinlich ziemlich schnell ins Bad weitergehen. Sobald der Mann in der Nasszelle war, würde Chaplain durch die Scheibe schießen. Die Kugel würde nur auf die schusssichere Weste treffen, aber durch ihre Wucht den Mann an die gegenüberliegende Wand schleudern. Im selben Moment würde Chaplain aufspringen, sich auf den Kerl stürzen und auf seinen Kopf schießen. Er hoffte lediglich, dass ihm noch genügend Kugeln blieben. Laden konnte er jetzt nicht; das Geräusch hätte ihn sofort verraten.
Der Mörder stand jetzt im Zimmer. Chaplain erstarrte. Er hörte den Mann schnaufen, knurren und stöhnen wie ein wahnsinnig gewordenes Raubtier. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Intuitiv spürte er jede Einzelheit: die zögernden Schritte seines Verfolgers, seine Atemlosigkeit, seine Angst. In gewisser Weise genoss er es, dieses kaltblütige Tier am Rand der Panik zu erleben.
Der Mann in Schwarz ließ langsam den Lichtkegel durch den Raum gleiten und schlich schließlich weiter in Richtung Bad. Chaplain kroch aus seinem Versteck, folgte ihm und schoss mehrmals, bis der Abzug sich verklemmte. Das Verbundglas der Abtrennung zerbröselte. Auch das
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