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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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den Erlös aus seinen Gemälden eingestrichen.
    Er zerriss den Draht, der das Grundstück absperrte, und berührte im Vorübergehen die Glocke, die unter der Gewalt des Regens zitterte. Der nur wenige Quadratmeter große Garten, wo nur alte Autoreifen und Betonblöcke herumlagen, trug noch zum Eindruck tiefster Verzweiflung bei. Kubiela watete bis zur Treppe, über der eine halb zerrissene Markise hing. Der Regen pikste ihn mit tausend Nadeln, bis er den schützenden Eingang erreicht hatte.
    Er läutete, doch nichts geschah. Trotzdem klopfte er noch einmal an das Eisengitter, das zum Schutz vor der Luke in der Tür angebracht war. Drinnen rührte sich nichts. Er riss einen der Gitterstäbe aus der Verankerung, stemmte den Laden des nächstgelegenen Fensters auf und zertrümmerte die Fensterscheibe, die mit einem trockenen Splittern zerbrach. Allmählich bekam er Übung in diesen Dingen.
    Er klammerte sich an das Fenstersims und blickte sich um. Keine Menschenseele weit und breit. Rasch schlüpfte er ins Innere. Das Haus war völlig leer. Kurz streifte ihn der Gedanke, dass seine Mutter nach seinem Tod ebenfalls verstorben sein könnte – immerhin war seine einzige Informationsquelle ein über ein Jahr alter Artikel in Le Monde gewesen.
    Windfang. Küche. Wohnzimmer. Kein Möbelstück, keine Lampe, kein Vorhang. Die Wände waren beige und braun gestrichen und wirkten modrig. Der Holzboden war so zersprungen, dass man die Trägerbalken sehen konnte. Bei jedem Schritt knackte etwas unter seinen Füßen. Es waren dattelgroße Kakerlaken. Kubiela wusste, dass er hier seine Kindheit verbracht hatte, und konnte sich lebhaft vorstellen, wie er sich angestrengt haben musste, dieses Loch so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Und das beste Mittel dazu waren eine gute Schulbildung und ausgezeichnete Zeugnisse.
    In sozialer und materieller Hinsicht hatte er auf der ganzen Linie gesiegt. Aber nicht nur das. Indem er sich im Studium auf die Psychiatrie spezialisierte, hatte er versucht, auch seinem geistigen Horizont, seinen Ambitionen und seinem Alltag eine neue Qualität zu verleihen. Und noch etwas wusste er genau: Niemals hatte er seine Eltern und ihre handwerklichen Tätigkeiten verachtet. Im Gegenteil. Eine seiner wichtigsten Triebfedern war die Dankbarkeit gewesen – einschließlich der Hoffnung darauf, sich eines Tages revanchieren zu können. Er hatte sich vorgenommen, seine Eltern aus dem Elend zu holen und sie für ihr Randgruppendasein zu entschädigen. Hatte er ihnen vielleicht ein anderes Haus gekauft? Er konnte sich nicht erinnern.
    Er erreichte eine Treppe. Das Holz war zu einer weichen Masse verschimmelt, aus der bei jedem Schritt eine grünliche Flüssigkeit quoll. Irgendwelche Krabbeltiere stoben im Halbdunkel davon. Er klammerte sich an das Geländer, fürchtete aber, dass es unter seinen Händen zerbröckeln könnte. Doch es hielt stand. Plötzlich kam ihm der absurde Gedanke, dass das Haus ihn akzeptierte – dass es ihn geradezu einladen wollte, seine Besichtigung fortzusetzen.
    Vom Flur trat er in das erste Zimmer. Die Läden waren geschlossen, es war dunkel und vollständig leer. Das nächste und übernächste Zimmer boten das gleiche Bild. Schließlich erreichte er eine verschlossene Tür, die sogar mit einem nagelneuen Schloss ausgestattet war. Diese Besonderheit machte ihm wieder ein wenig Hoffnung. Er versuchte die Tür mit der Schulter einzudrücken, wobei er befürchtete, die Trümmer könnten ihm um die Ohren fliegen. Doch der Ansturm erwies sich als schwieriger als erwartet. Kubiela musste sogar ins Erdgeschoss zurückkehren und seine Eisenstange holen. Er brauchte zehn mühevolle Minuten, ehe er die Tür endlich aus den Angeln heben konnte.
    Auch dieses Zimmer war leer, bis auf zwei Kartons, die mit Müllsäcken bedeckt in der Ecke standen. Vorsichtig hob Kubiela einen der Müllsäcke hoch. Er fürchtete, dass ihm Ratten oder Würmer entgegenkommen könnten. Stattdessen war der Karton mit Spiralheften neueren Datums gefüllt. Er nahm eins heraus und blätterte es durch. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Zwischen den blauen Plastikdeckeln befanden sich persönliche Aufzeichnungen von François Kubiela über Fälle psychischer Fluchten.
    Einen kostbareren Schatz hätte er kaum finden können.
    Hastig riss er den Müllsack vom zweiten Karton und fand Umschläge, Fotos und Unterlagen. Das ganze Leben der Kubielas in Zahlen, Bescheinigungen, Negativen und Formularen. Derjenige, der die

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