Der Ursprung des Bösen
Gleiche. Er geht durch ein menschenleeres Dorf. Die Sonne brennt heiß herab. Plötzlich gibt es eine sehr helle, stumme Explosion. Er flieht, aber sein Schatten bleibt auf der Mauer zurück. Mischell hat seinen Doppelgänger hinter sich gelassen.«
Als er seine Einschätzung vor der jungen Kommissarin wiederholte, erschien sie ihm noch schlüssiger als am Vortag. Der Traum war wirklich die symbolische Darstellung von Mischells Flucht.
»Kommen wir zu meinem Fall zurück«, sagte Anaïs und erhob sich. Sie hatte ihren Lederblouson nicht abgelegt. »Die Symptome könnten nach einem Schock aufgetreten sein, richtig? Vielleicht nach etwas, das er gesehen hat?«
»Wie ein Mord oder eine Leiche?« Freire lächelte. »Ihre Folgerungen haben Hand und Fuß. Ja, das halte ich durchaus für möglich.«
Anaïs blieb vor dem Pult stehen. Mathias saß noch immer. Das Kräftemessen war wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt.
»Wie gut stehen die Chancen, dass Sie ihm helfen können, sein Gedächtnis wiederzufinden?«
»Im Augenblick sind sie minimal. Um ihn sehr langsam und behutsam wieder in die Bahn des Menschen zurückzuführen, der er einmal gewesen ist, müsste ich wissen, wer er überhaupt war. Erst dann kann ich ihm helfen, sich wieder zu erinnern.«
Die junge Frau richtete sich entschlossen auf.
»Diese Aufgabe werden wir gemeinsam angehen. Sind die Informationen, die er Ihnen bisher gegeben hat, irgendwie von Nutzen?«
»Eher nicht. Er konstruiert seine neue Identität mit den Fragmenten der alten. Die einzelnen Teilstücke jedoch wirken verformt, und manchmal benutzt er sie falsch herum.«
»Würden Sie mir Ihre Notizen überlassen?«
»Auf keinen Fall.«
Nun erhob sich auch Freire, um seiner Absage die Schärfe zu nehmen.
»Tut mir sehr leid, aber das geht wirklich nicht. Ärztliche Schweigepflicht.«
»Wir haben es hier mit einem Mord zu tun«, trumpfte Anaïs in einem fast autoritär wirkenden Ton auf. »Ich könnte Sie als Zeuge vorladen.«
Freire ging um das Pult herum und fand sich Auge in Auge mit Anaïs wieder. Er überragte sie um mindestens einen Kopf, doch Anaïs wirkte nicht im Mindesten eingeschüchtert.
»Laden Sie mich vor, wenn Sie wollen. Sie können sich auch gern an die Ärztekammer wenden – ich brauche in diesem Fall nicht auszusagen. Und das wissen Sie ebenso gut wie ich.«
»Schade, dass Sie es so sehen«, sagte Anaïs und ging wieder auf und ab. »Wir hätten uns zusammentun können. Ich bin mir fast sicher, dass die beiden Vorfälle etwas miteinander zu tun haben. Möchten Sie denn nicht alle Hebel in Bewegung setzen, um die Wahrheit zu ergründen?«
»Nur bis zu einem gewissen Punkt. Ich will meinen Patienten heilen – nicht ihn ins Gefängnis bringen.«
»Das können Sie nicht verhindern. Vergessen Sie nicht, dass er mein Hauptverdächtiger ist.«
»Soll das eine Drohung sein?«
Mit den Händen in den Jackentaschen baute sie sich vor ihm auf, ohne Antwort zu geben. Genau wie zu Beginn. Sie schien bereit, der ganzen Welt die Stirn zu bieten. Freire steckte die Hände ebenfalls in die Taschen. Lederblouson gegen Arztkittel.
Das Schweigen schien eine halbe Ewigkeit zu dauern. Plötzlich langweilte ihn das Spielchen.
»Sind wir fertig?«
»Noch nicht ganz.«
»Was denn noch?«
»Ich will das Monster sehen.«
E ine Stunde später stand Anaïs auf dem Parkplatz der Klinik und checkte ihre Nachrichten. Drei Anrufe von Le Coz. Sofort rief sie zurück.
»Unsere Leiche ist identifiziert.«
»Ja?«
»Sein Name ist Philippe Duruy. Vierundzwanzig Jahre alt. Arbeitslos. Kein fester Wohnsitz. Ein Aussteiger.«
Hastig notierte Anaïs die Fakten in ihr Notizbuch.
»Wie sicher?«
»Absolut. Bei den Dealern hatte ich nur Pech. Doch nach vier vergeblichen Versuchen bei Apothekern stieß ich auf Sylvie Gentille. Sie wohnt in Talence, in der Rue Camille Pelletan 74, und ist die Inhaberin der Apotheke an der Place de la Victoire.«
»Kenne ich. Und?«
»Ich habe ihr das Foto auf ihr Handy geschickt. Sie hat den Jungen trotz seiner Beulen und Nähte sofort wiedererkannt. Seit drei Monaten holte er sich bei ihr seine monatliche Ration Subutex.«
»Bravo!«
»Das ist noch nicht alles. Ich habe Jaffar angerufen. Die Penner vom Cours Victor Hugo haben den Kerl ebenfalls wiedererkannt. Bei ihnen heißt er Fifi, aber es handelt sich tatsächlich um unseren Freund. Ein Goth, der kam und ging, wie es ihm passte. Manchmal tauchte er wochenlang nicht auf. Angeblich wohnte er in
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