Der Ursprung des Bösen
heißen, sich auf einer sogenannten dissoziativen Fugue, einer psychischen Flucht, befindet.«
Anaïs riss die dunklen Augen auf.
»Zunächst glaubte ich an eine retrograde Amnesie – also einen klassischen Gedächtnisverlust, der die persönlichen Erinnerungen betrifft. Am Morgen nach seiner Einlieferung schien alles langsam zurückzukehren. Ich dachte, dass er seine Vergangenheit wiederfände. Doch tatsächlich ist genau das Gegenteil geschehen.«
»Das Gegenteil?«
»Unser Cowboy hat sich nicht erinnert, sondern eine neue Identität für sich erfunden. So etwas nennt man ›psychische Flucht‹ oder ›dissoziative Fugue‹ – wir sprechen manchmal auch von ›Reisenden ohne Gepäck‹.«
»Erklären Sie mir das.«
Freire öffnete ein englisch geschriebenes Buch, suchte ein Kapitel heraus und reichte es Anaïs zum Lesen. Es hieß The Personality Labyrinth , und der Autor war ein gewisser McFeld von der Universität Charlotte in North Carolina.
»Es kann passieren, dass ein Mensch, der schwerem Stress oder einem Schock ausgesetzt war, um die Straßenecke biegt und sein Gedächtnis verliert. Später glaubt er, dass er sich wieder erinnert, und erschafft sich nicht nur eine neue Identität, sondern auch eine neue Vergangenheit, um seinem eigenen Leben zu entkommen. Es ist eine Art Flucht, aber eine Flucht im Innern.«
»Ist Ihr Patient sich dessen bewusst?«
»Nein. Mischell ist felsenfest davon überzeugt, dass er sich erinnert, aber in Wirklichkeit könnte man sagen, dass er sich – sagen wir: häutet.«
Anaïs blätterte das Kapitel durch, las aber nicht darin. Sie dachte nach. Mathias beobachtete sie. Sie presste die Lippen zusammen, und ihre Wimpern bewegten sich rasch. Er spürte, dass psychische Probleme ihr nicht fremd waren. Als sie plötzlich den Blick hob, fuhr Freire zusammen.
»Seit wann werden solche Fälle dokumentiert?«
»Zum ersten Mal sprach man im 19. Jahrhundert in den USA von der dissoziativen Flucht. Normalerweise sind sie auf als unerträglich empfundene Lebenssituationen zurückzuführen: Schulden, Ehekrisen, Probleme bei der Arbeit. Der Patient geht einkaufen und kehrt nie mehr zurück. Er hat alles vergessen. Und wenn er sich erinnert, ist er ein anderer geworden.«
Freire griff nach einem anderen Buch, öffnete es an der entsprechenden Stelle und reichte es der Polizistin.
»Einer der berühmtesten Fälle ist der von Ansel Bourne, einem evangelikalen Prediger, der sich irgendwann in Pennsylvania niederließ und unter dem Namen A. J. Brown ein Schreibwarengeschäft eröffnete.«
»Bourne? Wie Jason Bourne?«
»Robert Ludlum hat sich angeblich durch diese Geschichte zu seiner Beschreibung des Mannes ohne Gedächtnis inspirieren lassen. In Amerika ist die Quelle sehr bekannt.«
»Hat diese Störung etwas mit dem Syndrom zu tun, das man multiple Persönlichkeit nennt?«
»Nein. Bei der multiplen Persönlichkeitsstörung zerfällt die Identität gleichzeitig in mehrere Persönlichkeiten, die meistens nichts voneinander wissen. In den Fällen aber, die ich meine, löscht der Patient seine frühere Persönlichkeit aus und wird jemand ganz anderes. Da gibt es keine parallel zueinander existierenden Persönlichkeiten.«
Anaïs überflog die Kapitel, die sich dem Phänomen widmeten. Auch jetzt las sie nicht wirklich. Sie erwartete eine mündliche Erklärung.
»Sie halten Mischell also für einen dieser Fälle?«
»Ich bin mir so gut wie sicher.«
»Warum?«
Mathias stand auf und trat hinter den Tresen aus massivem Eichenholz, wo der Katalog untergebracht war. In einer Schublade fand er, wonach er suchte. Mit einem Scrabble-Spiel in der Hand nahm er wieder Anaïs gegenüber Platz.
»Unser Unbekannter behauptet, Mischell zu heißen.«
Mit den weißen Plastikklötzchen legte er den Namen MISCHELL.
»Häufig handelt es sich bei unbewusst erfundenen Namen um Anagramme.«
Er veränderte die Ordnung und legte das Wort SCHLEMIL.
»Was soll das heißen?«
»Kennen Sie Peter Schlemihl nicht?«
»Nein«, erwiderte sie trotzig.
»Er ist der Held eines Märchens aus dem 19. Jahrhundert von Adelbert von Chamisso. Der Mann ohne Schatten. Unser Mann ohne Gedächtnis scheint sich in dem Augenblick, als er sich eine neue Identität schuf, an diese Geschichte erinnert zu haben.«
»Gibt es eine Verbindung zu seiner eigenen Geschichte?«
»Der Verlust des Schattens ist möglicherweise ein Symbol für seine frühere Identität. Seit er hier bei uns ist, träumt Mischell immer das
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