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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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psychische Probleme hatte.
    Nur wenig später hatte sich diese Vermutung durch einen Zufall bestätigt. Als sie ihm ein Glas Wein einschenkte, erhaschte er einen Blick auf ihre zerschnittenen, vernarbten Unterarme und erkannte die Verletzungen auf den ersten Blick. Das waren keine Spuren eines Selbstmordversuchs. Ganz im Gegenteil. So sahen die Überbleibsel eines starken Überlebenswillens aus.
    Mathias hatte diese Art von Störung schon häufig behandelt. Jugendliche verletzten sich manchmal selbst, um ihrer Verzweiflung Herr zu werden und sich von ihrer Lähmung zu befreien. Das schreckliche Gefühl musste aus ihnen heraus. Der Körper musste bluten. Der Schnitt befreite sie und war gleichzeitig eine Ablenkung, weil der körperliche Schmerz die seelischen Qualen überlagerte. Und er verschaffte ihnen eine gewisse Beruhigung. Die blutende Wunde gab den Menschen die Illusion, dass das psychische Gift aus ihnen herauslief.
    Als Anaïs zum ersten Mal in Freires Büro gekommen war, hatte er sofort die Kraft gespürt, die von ihr ausging. Anaïs war eine Frau, die der Welt ihren Stempel aufdrückte. Sie war stark, weil sie gelitten hatte. Trotzdem wirkte sie zerbrechlich und verletzbar, und zwar aus genau dem gleichen Grund.
    Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hatte man gern immer wieder einen Allgemeinplatz zitiert, der aus Nietzsches Götzen-Dämmerung stammte: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.« Natürlich war das albern, zumindest in der banalen Weise, in der das Zitat verwendet wurde. Jede Art von Leiden ist im Alltag alles andere als eine Kraftquelle. Im Gegenteil, es belastet, schwächt und zermürbt. Für dieses Wissen wurde Freire bezahlt. Die menschliche Seele ist nun einmal kein Stück Leder, das durch Bewährungsproben gegerbt wird. Sie ist eine zarte, schwingende, sensible Membran, in der ein Schock tiefe Spuren hinterlassen kann.
    Eine seelische Qual kann zu einer Krankheit werden, die ein Eigenleben führt und sich immer wieder selbst Nahrung gibt. Es kommt zu Krisen, die keine erkennbare Verbindung zu Gegenwart und Umgebung haben. Falls überhaupt eine Verbindung existiert, liegt sie so tief verborgen, dass niemand – nicht einmal ein Psychiater – sie nachweisen kann.
    Anaïs Chatelet, dessen war sich Freire sicher, lebte mit der Bedrohung durch eine solche Krise, die jederzeit ohne ersichtlichen Grund und ohne besondere Belastung wieder ausbrechen konnte. Und wenn die Qual erst wieder aufloderte, musste das Gift herausgelassen werden. Der Körper musste bluten, denn der Schmerz kam von innen, nicht von außen. So etwas nannte man eine Neurose. Eine seelische Störung. Ein Angstsyndrom. Es gab dafür Dutzende Wörter, und Freire kannte sie alle. Sie waren sein Handwerkszeug.
    Doch das Geheimnis blieb. Die Legende behauptet – und es ist eine Legende –, dass man den Ursprung dieser Krisen in der Kindheit suchen muss. Angeblich nistet sich das Übel in den ersten Lebensjahren in der Seele ein und kann sowohl auf ein traumatisierendes Sexualerlebnis als auch auf einen Mangel an Liebe oder schwere Vernachlässigung zurückzuführen sein. Freire stimmte diesen Theorien zu, denn er war Freudianer. Trotzdem war die wichtigste Frage damit noch lange nicht beantwortet: Warum reagierten Gehirne einmal mehr und einmal weniger sensibel auf Traumata oder frustrierende Kindheitserlebnisse?
    Freire hatte Jugendliche kennengelernt, die einem Inzest entstammten, vergewaltigt worden waren und Hunger, Schmutz und Schläge hatten ertragen müssen und trotzdem seelisch gesund waren. Andere wiederum waren in einem behüteten Zuhause aufgewachsen und durch eine Kleinigkeit oder auch nur durch eine Vermutung aus der Bahn geworfen worden. Es gab geprügelte Kinder, die später verrückt wurden, und andere, die nie eine Störung zeigten. Niemand konnte diese Unterschiede erklären. Ob es an einer mehr oder weniger durchlässigen Seele lag, die Ängste, Qualen und Unbehagen unterschiedlich leicht eindringen ließ?
    Was mochte Anaïs Chatelet widerfahren sein? Hatte sie ein furchtbares Trauma erleben müssen, oder war es ein unbedeutendes Ereignis gewesen, das nur durch eine außergewöhnliche Empfindsamkeit verstärkt wurde?
    Das Ortsschild von Biarritz riss ihn aus seinen Gedanken. Freire bog ab, folgte der Küstenstraße über Bidart nach Guéthary, überquerte den kleinen Dorfplatz, sah die Mauer des Pelota-Spielfeldes und fuhr zum Hafen. Dort parkte er und ging die Betonmole hinunter.
    Die Flut hatte ihren

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