Der Ursprung des Bösen
um in dieser Sache zu recherchieren – zumal das Dorf offenbar nicht existierte und der Familienname erfunden war.
Was Bonfils’ Zeit bei der Fremdenlegion anging, so brauchte Freire sich gar nicht erst die Mühe zu machen, dort nachzuforschen. Die Legion garantierte ihren Soldaten die vollständige Anonymität.
Eines wusste er jedoch jetzt sicher: Patrick Bonfils existierte nicht. Ebenso wenig wie Pascal Mischell.
Schon diese Identität war ein dissoziatives Syndrom gewesen.
Noch einmal blätterte Freire in seinen Notizen. Sylvie Robin lebte seit drei Jahren mit Bonfils zusammen. Vermutlich hatte sie ihn, ohne es zu ahnen, während seiner Fluchtphase kennengelernt. Und er hatte sie von Anfang an belogen – ebenfalls ohne es auch nur zu ahnen .
Aber wer war er davor gewesen?
Wie viele Identitäten hatte er sich erschaffen, erfunden und gestaltet?
Freire versuchte sich die Seele des Mannes vorzustellen. Sein Geist war mit den unterschiedlichsten Persönlichkeiten angefüllt, die alle nur einen Zweck hatten: denjenigen zu ersticken, der ihm in seinen Augen als Einziger gefährlich werden konnte. Ihn selbst. Sein wahres Ich. Patrick Bonfils befand sich auf der Flucht vor seinen Ursprüngen und seinem Schicksal. Und mit Sicherheit auch vor einem Initialschock, der zum Trauma geführt hatte.
Die Antwort, oder zumindest ein Teil davon, war in seinem Namen zu finden. Eigentlich hätte ihm die Aussage des Familiennamens gleich zu denken geben müssen. »Bon Fils«, das bedeutete: guter Sohn. Etwas, das er vielleicht immer hatte werden wollen. War er ein schwer erziehbares Kind gewesen? Die Geschichte, dass er angeblich schuld am Tod des Vaters war, konnte ein Hinweis sein. Allerdings ein verborgener und durch die Arbeit des Unterbewusstseins vermutlich deformierter Hinweis.
Freire stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und ging im Wohnzimmer auf und ab. Seine Gedanken überschlugen sich. Wenn er den Riesen heilen wollte, würde er eine Persönlichkeit nach der anderen aufdecken müssen, bis er die erste, die ursprüngliche Identität des Mannes fand.
Das Problem dabei war, dass er keine Ahnung hatte, ob der Cowboy sich auf seiner zweiten, dritten oder zehnten dissoziativen Flucht befand. Die Namen und Charaktereigenschaften der jeweiligen Persönlichkeiten allerdings lebten verschüttet in der Seele seines Patienten weiter, wie die Niederschläge jeder Wintersaison für immer in einem Gletscher auffindbar blieben – das wusste Freire sicher. Aber er würde bohren, sondieren, analysieren und alle verfügbaren Mittel nutzen müssen, um die unbewusste Erinnerung zu erreichen. Mit Hypnose. Mit Amobarbital. Und mit Psychotherapie.
Freire holte sich in der Küche ein Glas Wasser und stürzte es hinunter. Fast automatisch warf er einen Blick auf die dunkle Straße. Die Männer in Schwarz waren nicht zu sehen. Hatte er die ganze Sache vielleicht nur geträumt? Er füllte sein Glas ein zweites Mal. Als er es schließlich in die Spüle stellte, sah er plötzlich klar in sein eigenes Inneres. Sein erklärtes Ziel, die Geschichte von Patrick Bonfils zu entschlüsseln, würde vor allem ihm selbst helfen, seine Erinnerungen zu vergessen: den Tod von Anne-Marie Straub und sein Versagen als Psychiater.
Das Trauma eines anderen Menschen untersuchen, um das eigene zu verdrängen …
A m nächsten Morgen dachte Mathias Freire auf dem Weg nach Guéthary an Anaïs Chatelet. Er war mit ihrem Bild, ihrer Gegenwart und dem Klang ihrer Stimme erwacht.
»Sind Sie verheiratet?«, hatte er sie gefragt. »Haben Sie Kinder?«
»Sehe ich etwa verheiratet aus? Und wirke ich wie eine Mutter? Nein, so weit bin ich noch längst nicht.«
»Und … Wie weit sind Sie?«
»Bisher habe ich es gerade mal ins Internet geschafft – zu den Partnervermittlungen.«
»Funktioniert das?«
»Ach wissen Sie, dafür, dass ich Polizistin bin, habe ich immerhin eine gewisse Ausstrahlung …«
Etwas später war sie es gewesen, die Fragen stellte.
»Warum sind Sie Psychiater geworden?«
»Aus Leidenschaft.«
»Finden Sie es interessant, in den Köpfen der Leute herumzuwühlen?«
»Ich wühle nicht in ihren Köpfen, ich behandle und befreie sie. Etwas Interessanteres kann ich mir ehrlich gesagt kaum vorstellen.«
Die junge Frau biss sich auf die Unterlippe. Wie schon bei ihrer ersten Begegnung war er sich fast sicher, dass Anaïs Chatelet schon einmal in einer psychiatrischen Klinik behandelt worden war und vermutlich schwerwiegende
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