Der Ursprung des Bösen
gleichen Liga.
Sie wollte gerade aufstehen, als Freire sehr leise sagte:
»Ich will noch einmal nach Guéthary fahren.«
»Aber warum?«
»Um Patrick zu befragen. Ich will wissen, wer er wirklich ist und was tatsächlich am Bahnhof Saint-Jean passiert ist.« Er schwenkte seine Coladose. »Im Grunde führen wir die gleiche Ermittlung.«
Anaïs lächelte wieder. Hoffnung und Wärme breiteten sich in ihr aus wie Heilquellen. Nie hätte sie zu träumen gewagt, dass sie bei ihrer Arbeit einem derart verführerischen Mann begegnen würde.
»Sind Sie ganz sicher, dass wir meine Flasche nicht doch öffnen sollten?«
Z wei Stunden später machte sich Freire wieder an die Arbeit. Anaïs war gegangen, wie sie gekommen war – nur ein wenig beschwipst. Sie hatten getrunken, gelacht und viel geredet. Nie hätte Freire einen solchen Zauber in der Öde seiner Abende erwartet, umso weniger, da der Anlass ihrer Bekanntschaft ja eher unerfreulich war.
Den ganzen Abend war er distanziert geblieben. Zu keiner Zeit hatte er versucht, durch Berührungen oder Blicke mit ihr zu flirten, obwohl er den Eindruck hatte, dass bei ihr alle Ampeln auf Grün standen. Freire hielt sich nicht gerade für einen Experten in weiblicher Psychologie, doch er konnte zwei und zwei zusammenzählen. Der abendliche Besuch. Die Flasche Wein. Das etwas gepflegtere Erscheinungsbild, das ihn allerdings auch irritiert hatte: Wieso trug sie ein Kleid über einer Jeans? Jedenfalls war er sicher, dass die junge Hauptkommissarin für gewisse Dinge durchaus offen gewesen wäre.
Trotzdem hatte er sich nicht gerührt, und zwar aus zwei Gründen. Erstens hatte er sich geschworen, Berufliches und Privatleben strikt zu trennen. Anaïs Chatelet aber gehörte im weitesten Sinne und zugegebenermaßen eher indirekt zu seiner Berufssphäre. Der zweite Grund saß viel tiefer, sozusagen in den Abgründen seiner Seele, und hieß: Angst. Oder Lampenfieber. Es war die Furcht, sich eine Abfuhr zu holen. Die Sorge, ihren Erwartungen nicht zu genügen. Wie lange war es her, seit er zum letzten Mal Sex gehabt hatte? Er erinnerte sich nicht mehr. Ob er überhaupt noch wusste, wie das ging?
Als gute Freunde hatten sie sich an der Haustür voneinander verabschiedet und einander versprochen, sich über ihre jeweiligen Fortschritte auf dem Laufenden zu halten. Sozusagen im letzten Augenblick hatte Freire der jungen Frau anvertraut, dass er sich seit mehreren Tagen beobachtet fühlte, und von den Verfolgern im Audi Q7 erzählt. Er hatte ihr sogar die Abzüge mit den Nummernschildern des Geländewagens überlassen. Anaïs schien von der Geschichte nicht besonders überzeugt zu sein, versprach aber, den Halter des Wagens herauszufinden.
Inzwischen war es Mitternacht und Freire wieder allein. Von dem Wein hatte er Kopfschmerzen bekommen. Er vertrug einfach keinen Alkohol. Auch der Schmerz hinter seinem Auge meldete sich wieder. Trotzdem fühlte er sich nicht müde. Er brühte sich einen Kaffee auf, schaltete sein Diktafon ein und setzte sich an seinen Schreibtisch.
Die Informationen, die Patrick Bonfils ihm gegeben hatte, konnte er auch mitten in der Nacht überprüfen. Ehe er tiefer in das Bewusstsein des Fischers vordrang, wollte er eine hieb- und stichfeste Akte seiner wahren Identität vor sich liegen haben.
Er spielte ab, was er aufgezeichnet hatte, und machte sich gleichzeitig Notizen. Angeblich stammte der Cowboy aus einem Dorf in der Nähe von Toulouse, das Gheren hieß.
Freire gab den Namen in seinen Computer ein und erlebte sogleich den ersten Schock. Im Departement Haute-Garonne gab es keinen Ort dieses Namens. Er erweiterte die Suche auf die Region Midi-Pyrénées, wurde aber auch hier nicht fündig.
Mathias tippte den Namen »Patrick Bonfils« ein und startete einen Suchlauf in der gesamten Region. Weder bei den Meldeämtern noch bei Schulen oder Arbeitsämtern wurde der Name geführt.
Er spulte das Diktiergerät vor und hielt es bei einem weiteren Hinweis an. Der Fischer hatte gesagt, dass seine Nochehefrau Marina Bonfils inzwischen in Nîmes oder Umgebung wohnte. Auch diese Suche ergab kein Ergebnis.
Mathias wurde immer kribbeliger. Er schwitzte. Das Pochen hinter seinem linken Auge verstärkte sich.
Er legte das Diktiergerät beiseite und widmete sich dem, was Sylvie ihm erzählt hatte. Etwa die Geschichte von Pascals Vater, der in ein Säurebecken gefallen und daran gestorben war. Schnell wurde ihm allerdings klar, dass er über zu wenige Einzelheiten verfügte,
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