Der Ursprung des Bösen
ob er wirklich das Richtige getan hatte. Marseille war sicher der letzte Ort, wo man ihn vermutete. In dieser Hinsicht hatte er sich richtig entschieden. Aber irgendwann würde man auch hier ermitteln. Hatte er überhaupt eine Chance, den Polizeistreifen zu entkommen, die alle sein Konterfei kannten?
Kreischend hielt der Zug an. Er hatte fast anderthalb Stunden Verspätung. Vorsichtshalber wartete Freire eine gewisse Zeit, ehe er ausstieg. Erst als der Bahnsteig nur so von Reisenden wimmelte, stürzte er sich mit seiner Reisetasche und dem Laptop unter dem Arm ins Gedränge.
Der Bahnhof Saint-Charles erinnerte an den Bahnhof Saint-Jean. Die gleichen Stahlkonstruktionen, die gleichen endlos langen, hell erleuchteten Bahnsteige.
Freire ließ sich im Strom der anderen Reisenden dahintreiben. Doch plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen.
An Ende des Bahnsteigs standen Polizisten. Sie waren in Zivil, doch ihre finsteren Mienen, ihre breiten Schultern und ihre einschüchternde Haltung ließen keinen Zweifel zu. Anaïs Chatelet und ihr Team waren also auf die gleiche Idee gekommen wie er. Zumindest hatten sie es nicht für unmöglich gehalten, dass er zu seinen Ursprüngen zurückkehrte.
Der Strom der Reisenden floss weiter. Koffer prallten an seine Knie, fremde Schultern stießen ihn an. Langsam setzte sich Freire wieder in Bewegung. Er versuchte nachzudenken, während ihm das Herz bis zum Hals klopfte. Sollte er abtauchen? Sich unten auf den Gleisen verstecken? Unmöglich. Rechts und links standen Züge, die den Bahnsteig zu einem Korridor verengten.
Freire wurde noch langsamer. Die Erholung der Nacht war längst schon Vergangenheit. Was sollte er machen? So tun, als hätte er etwas vergessen, und wieder einsteigen, um im Waggon einen besseren Fluchtzeitpunkt abzuwarten? Aber welchen Zeitpunkt? Sobald der Bahnsteig sich geleert hatte, würden die Sicherheitskräfte mit ihren Hunden jedes Abteil und auch die Toiletten durchsuchen.
Man würde ihn zur Strecke bringen wie eine Ratte.
Dann war es hier draußen doch besser.
Er ging immer noch weiter. Schritt für Schritt. Einen Meter nach dem anderen. Doch die zündende Idee ließ auf sich warten.
»Entschuldigung.«
Er drehte sich um und sah eine kleine Frau, die mit der einen Hand einen Rollenkoffer zog und in der anderen Hand eine Tasche trug. Ein etwa zwölfjähriger Junge klammerte sich an ihren Arm. Das war die Gelegenheit!
»Verzeihung«, entschuldigte er sich lächelnd. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Danke, es geht schon.«
Die Frau ging um ihn herum. Sie hatte ein kleines, verkniffenes Gesicht und schaute grimmig drein. Freire schnitt ihr den Weg ab, strahlte sie an und hielt ihr beide Hände entgegen.
»Ich will Ihnen doch nur helfen. Die Sachen sind doch viel zu schwer.«
»Lassen Sie mich in Frieden.«
Sie rückte weder ihren Koffer noch ihre Reisetasche heraus. Der kleine Junge warf ihm wütende Blicke zu. Zwei kleine, in den Kampf des Lebens geworfene Soldaten. Freire lief rückwärts vor den beiden her.
Fünfzig Meter noch, dann hatten ihn die Bullen am Schlafittchen.
»Probieren Sie es doch einfach aus. Wir versuchen es bis zum Ende des Bahnsteigs, und dann geben Sie mir einfach ein Rot oder ein Blau.«
Das Gesicht des Jungen hellte sich auf.
»Wie in Nouvelle Star ?«
Freire hatte die Bemerkung einfach so hingeworfen, ohne an die Fernsehsendung zu denken, die er nur ein einziges Mal zufällig gesehen hatte. Die Vorstellung junger, unbekannter Sänger wurde von einer professionellen Jury mit bunten Lichtzeichen bewertet.
Die Frage des Kindes bewirkte einen Sinneswandel. Nun wurde auch das Gesicht der Frau freundlicher. Sie musterte Freire von oben bis unten und schien sich zu fragen, warum sie es nicht einfach versuchen solle. Schließlich hielt sie ihm Koffer und Tasche hin. Freire hängte sich seine eigene Tasche und den Laptop über die Schulter, nahm die beiden Gepäckstücke, drehte sich um und ging mit strahlendem Lächeln weiter. Der kleine Junge klammerte sich an seinen Ellbogen und hüpfte neben ihm her.
Die Polizisten beachteten ihn nicht einmal. Sie suchten nach einem gehetzten, panisch flüchtenden Mann, nicht nach einem Familienvater in Begleitung seiner Frau und seines Sohnes. Innerlich war Freire alles andere als ruhig. In dem Bahnhof, der wie ein riesiges, mit Plastikbäumen bepflanztes Aquarium wirkte, wimmelte es nur so vor Polizisten und Sicherheitsleuten. Wohin sollte er sich wenden? Er konnte sich absolut nicht an
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