Der Utofant
aufnehme.
Soll reden? Zeitverschwendung. Geschäftskürzel genügt.
Scheint so, daß bald auch die Verhaltensweise des elektronischen zwischenmenschlichen Verkehrs in Ihren Forschungsbereich abwandern wird, Kollege Jeremias.
Auch heute gibt es noch Schrumpfformen des einstigen Briefes, sagte Jeremias. Denken wir an die dauerprogrammierten Glückwunschtafeln, die sofort nach Erhalt dem Abholdienst zurückgegeben werden können, an das Erscheinen von Glückwünschen im individuellen Tele-Apparat, die keinen persönlichen Text enthalten, also nicht mehr gelesen zu werden brauchen und zu den jeweiligen Anlässen von den Empfängern nur registriert werden, und zwar mit Hilfe eines kleinen Rechners, der von den Glückwunschunternehmen billig geliefert wird.
Entschuldigung, sagte Strungs, sie brauchen auch nicht mehr registriert zu werden. Wer Glückwünsche zu übermitteln wünscht, läßt den Empfänger dies nur ein einziges Mal mitteilen, für Lebensdauer. Somit sind alle jemals fälligen Wünsche bereits im Dauerabonnement erledigt, das selbstverständlich gekündigt werden kann, wenn Streitigkeiten, Bruch der Freundschaft oder Tod auftreten. Merkwürdigerweise haben wir als Kündigungsgrund nur Tod feststellen können. Die Sache läuft sehr friedlich. Es würde viel zuviel persönliches Engagement bedeuten, falls wirklich mal ein anderer Kündigungsgrund eintreten sollte, ihn wahrzunehmen. In vielen Fällen wird das Abonnement auch nicht im Todesfall gelöst. Es hebt sich dann von selbst auf. Als Schrumpfformen bestehen meines Wissens auch elektronische Benachrichtigungen durch Behörden, Institute, Unternehmen. Wir sprechen aber vom individuellen Brief als Ausdruck einer inneren Haltung. Wie schrumpfte bzw. entartete er?
Jeremias sagte, er besitze in seinem Privatarchiv ein paar sehr schöne Entartungsexemplare. Da werde zum Beispiel von jemand brieflich mitgeteilt, was er zu Haus für Wetter habe. Daß Vögel, Mauersegler und sonstige Flugorganismen eingetroffen seien, gewisse Blumen blühten oder gerade welkten. Dies hätte aber der Empfänger, falls es ihn interessierte, den offiziellen Nachrichtenmitteln längst entnommen und oft genauer und wissenschaftlicher. Auch Mitteilungen über Wohnungseinrichtungen von Verwandten träten in solchen entarteten Exemplaren auf. Sie lieferten nichts Sonderliches; die jeweiligen Trends seien schon damals weltweit bekannt gewesen, wie auch die Nahrungsmittel sich im Grunde glichen. So wurde es nicht als besonders relevant empfunden, wenn einer schrieb, er habe Kraftmeiers Erbsensuppe aus der Tube mit Einhandverschluß genossen. Nicht einmal danach aufgetretene Blähungen hätten noch sensationell gewirkt. Solche Briefe, sagte Jeremias, können uns heute nur noch beweisen, daß es eine Anzahl von Individuen gegeben hat, die sich nichts Wesentliches mitzuteilen wußten und aus Gewohnheit oder schlechter Erziehung schrieben, also im Leerlauf. Auch Rei sebeschreibungen, oft Inhalt des antiken Briefes, verloren an Interesse. Als unvergeßliche Erlebnisse gepriesene sogenannte Abenteuer wurden zum Massengebrauchsartikel im Sonderangebot und somit, brieflich gesehen, irrelevant. Blieben noch die beliebten Krankheitsschilderungen, doch ließen sie sich kurzformig abtun, was später auch von einem Nachrichteninstitut auf Grund von austauschbaren Daueraufträgen übernommen wurde. Man kreuzt wohl jetzt auf einer Liste von Krankheiten die zutreffenden an, wenn ich recht unterrichtet bin. Meist wird gegen geringes Entgelt der Krankheitsgang geschildert, der ja bei vielen Erkrankungen inzwischen standardisiert wurde. Auch da also kein Grund zu individuellem Auslaß.
Verhältnismäßig lange hielten sich noch die sogenannten o ffenen Karten , auf denen Nachteiliges, Gehässiges oder Intimtratsch, den Empfänger betreffend, in großen, deutlichen Zeichen mitgeteilt wurde. Seitdem die Zustellung nicht mehr durch Menschenhand erfolgt, also außer dem Empfänger niemand mehr die offenen Karten lesen würde, haben auch sie ihren Sinn verloren. Es muß aber einige gedanklich tiefe, moralisch wertvolle Briefe gegeben haben, in denen Wichtiges festgestellt wurde, die Ideen enthielten, die die Gesellschaft hätten weiterbringen können und manchmal vielleicht sogar brachten, sagte Strungs.
Solche Stücke würde ich nicht mit dem Namen Brief bezeichnen, sagte Jeremias, sie sind zumeist in Zeitungs- oder Buchform publiziert worden. Wie hätte sonst ein Brief, in einem individuellen Tischkasten
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