Der Väter Fluch
sprach von Ernestos blühendem Leben, das von einem schrecklichen Schicksalsschlag vorzeitig beendet worden war. Und dass es jetzt an ihnen - der Gemeinde - sei, zusammenzukommen und Jill, Carter und Karl aus dem tiefen Tal der Tränen zum lebendigen Licht Gottes zu führen. Dies würde zwar viel Zeit erfordern - Monate, Jahre, Jahrzehnte - und möglicherweise auch nie gelingen, aber die Gemeinde dürfe nicht nachlassen, es immer wieder zu versuchen. Sie dürfe ihnen niemals den Rücken kehren und den wundervollen Menschen vergessen, der Ernesto Che Golding gewesen war. Er drängte die Familie, sich zum Leben zu bekennen.
Dann sprach der Geistliche die Eltern direkt an, bot ihnen Worte des Trostes. Schließlich wandte er sich an Karl - die Rolle des Überlebenden sei immer die schwierigste von allen. Er segnete den Jungen und sagte ihm, er solle versuchen, sein Leben weiterzuleben, die schönen Zeiten, die er mit Ernesto verbracht hatte, nicht zu vergessen und diese Freude zu leben. Das wäre die beste Möglichkeit, das Andenken an seinen Bruder zu wahren. Lass nicht den Tod des einen Sohnes zum Tod zweier Söhne werden.
Decker hatte dies nur allzu oft miterlebt. Der Tod forderte mehr als nur ein Opfer. Der Pfarrer musste etwa Mitte fünfzig sein - er war untersetzt, rundlich und eher unansehnlich, aber er besaß eine ungeheuere Präsenz. Er verstand es, die Familie auf direkte und persönliche Weise anzusprechen, und dennoch waren seine Worte bis in die letzte Reihe der Kirche klar und deutlich zu vernehmen.
Um sich die Zeit zu vertreiben, suchte Decker in der Menge nach vertrauten Gesichtern. Unter den Trauergästen entdeckte er den Bürgermeister, einen Senator sowie diverse Abgeordnete des Bundesstaates und der Regierung. Der Polizeichef und der Captain saßen hinter den Politikern - so wie es sich gehörte. Das Lokalfernsehen hatte im Mittelgang und den Seitengängen mehrere Kameras aufgebaut. Und weiter hinten erkannte er Lisa Halloway. Ihre Hände zitterten, und ihr Gesicht war tränenüberströmt. Auch Schulleiter Williams wischte sich die Tränen aus den Augen, und Jaime Dahl weinte hemmungslos. All seine Klassenkameraden... im gleichen Alter wie Deckers eigene Söhne. Ruby Ranger war anscheinend nicht erschienen. Andererseits konnte sie natürlich auch irgendwo in der Menge stehen. Decker kannte sie schließlich nur von ein paar Schnappschüssen.
Decker hatte einen Kloß im Hals; seine Augen schmerzten fast so wie sein Kopf, und sein Herz pochte heftig. In der Hitze schmolz er wie Butter in der Sonne, und seine Schuhe drückten vom langen Stehen. In seinen Ohren begann es laut zu klingeln... bis ihm bewusst war, dass sein Mobiltelefon läutete.
Verlegen eilte er nach draußen und drückte beim fünften Klingeln auf die Anruftaste. »Decker.«
»Hi, ich bin's.«
Es war Marge. »Was ist los?«, fragte Decker.
»Wo bist du gerade?«
»Bei der Beerdigung.«
»Und wie lange dauert das noch?«
»Keine Ahnung. Was ist passiert?«
»Eine ganze Menge. Du solltest unbedingt herkommen.«
»Warum? Habt ihr was über Holt rausgefunden?«
»Sowohl über Holt als auch über Ricky Moke. Holt hatte geschäftlich mit Dee Baldwin zu tun. Dr. Estes hat sie in Baldwins Büro gesehen, zusammen mit Hank Tarpin. Aber jetzt hör gut zu: Es war Ricky Moke, der auf der Gehaltsliste der Baldwins stand.«
Der Groschen fiel sofort. »Holt und Moke sind ein und dieselbe Person«, sagte Decker. »Tja, irgendwie ticken wir doch alle gleich.«
»War Moke/Holt und Dee Baldwins Beziehung ausschließlich geschäftlicher Natur?«
»Das wissen wir noch nicht. Deswegen solltest du ja möglichst schnell herkommen.« Marge erzählte ihm kurz von ihrem Gespräch mit Maryam Estes.
»Sieht ganz so aus, als hätte Scott Recht gehabt...«, meinte Decker. »Die Baldwins hatten Insiderinformationen über die Zulassungstests.«
»Stimmt. Wann, glaubst du, bist du da fertig?«
»Ich weiß es nicht. Außerdem muss ich noch mit der Familie sprechen.«
Marge seufzte. »Vielleicht kann der Kondolenzbesuch noch warten, Pete. Wir sind da auf einer heißen Spur.«
»Nein, das kann nicht warten. Erstens bin ich selbst Vater, und das gehört sich schließlich so. Ich muss ihnen mein Beileid aussprechen, und ich muss es persönlich tun. Zweitens: Wenn wir mit dieser Moke-Holt-Geschichte falsch liegen, werde ich die Hilfe der Goldings noch dringend brauchen. Allerdings hab ich nicht vor, mich hier festzuquatschen. Ich komm so schnell ich
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