Der Väter Fluch
Aber er hatte keine Zeit zu antworten, da Karl plötzlich auftauchte. Sofort richtete Waylen seine Aufmerksamkeit auf den Jungen, umarmte ihn und hielt seine Hände, während er mit ihm sprach: »Kann ich etwas für dich tun, Karl?«
»Nein, mir geht es gut, Reverend.«
»Ich bin immer für dich da. Ich möchte, dass du das weißt.«
»Danke, Reverend.« Der Junge blickte zu Boden und entzog dem Pfarrer seine Hände. »Ich weiß das zu schätzen.« Niemand sagte etwas.
Schließlich wischte sich Karl mit einem Papiertaschentuch über die Stirn. »Ich bin müde.«
»Vielleicht solltest du dich etwas hinlegen«, sagte Waylen.
»Ich glaube nicht, dass ich meine Eltern jetzt allein lassen darf.« Karl sah Waylen flehend an. »Könnten... könnten Sie sich vielleicht eine halbe Stunde um sie kümmern? Damit... um mir schnell andere Schuhe anzuziehen...«
»Natürlich.«
Er wandte sich an Decker. »Lieutenant...«
»Karl...«, erwiderte Decker.
»Vielleicht... könnten Sie mir ein Glas Wasser bringen?«, bat der Junge.
»Selbstverständlich.«
»Ich mach das schon«, mischte sich Waylen ein. »Reverend, ich glaube, meine Eltern... Sie sollten besser zu Ihnen gehen.«
»Leg dich schon mal hin«, sagte Decker. »Ich bring dir ein Glas Wasser.«
»Vielen Dank.« Rasch drängte Karl sich durch die Menge, jedes Gespräch vermeidend. Decker verabschiedete sich vom Reverend und marschierte in die Küche, wo er ein Tablett mit Erfrischungsgetränken fand. Er nahm eine Limonade und ging mit dem Glas in der Hand zu Karls Zimmer. Die Tür war verschlossen.
Decker klopfte. »Ich bin's, Karl. Lieutenant Decker.«
Er hörte Schritte; dann wurde der Schlüssel umgedreht, und die Tür ging einen Spalt auf. »Kommen Sie schnell!«, sagte der Junge und verriegelte hinter Decker sofort wieder die Tür. »Ich will... ich will einfach mit niemandem sonst reden.«
»Ich hab dir ein Glas Limo mitgebracht«, sagte Decker. »Ist das okay?«
Der Junge warf sich auf das Bett, drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. »Ich bin gar nicht durstig. Ich hab nur nach einer Ausrede gesucht, damit Sie hierher kommen.«
»Wo soll ich das Glas abstellen?«, fragte Decker.
»Keine Ahnung... irgendwo.«
Decker setzte das Glas auf dem Schreibtisch ab. Seit seinem letzten Besuch war der Raum ordentlich aufgeräumt worden und wirkte fast schon steril sauber. »Wie fühlst du dich?«
Karl reagierte nicht. Decker zog sich den Schreibtischstuhl heran und wartete.
»Am liebsten würde ich jetzt jemanden umbringen«, verkündete Karl schließlich. »Jemand Spezielles?«, fragte Decker.
»Am liebsten meinen Bruder, aber der ist ja schon tot.« Minuten verstrichen. Dann meinte er: »Für jemand mit so viel Grips hat er sich bei Frauen ziemlich blöd angestellt.«
»Das geht den meisten Jungs so.«
»Nein, ich meine wirklich dämlich. Er hatte eine so nette Freundin, aber die hat er sitzen lassen.«
»Lisa Halloway.«
»Ja, Lisa«, sagte Karl. »Lisa war hübsch, gescheit und total verrückt nach ihm. Ich glaub, sie haben's sogar miteinander getan. Ich kann mir überhaupt nicht erklären, warum... nein, das stimmt nicht. Ich weiß genau, warum er sich in Ruby Ranger verknallt hat.« Der Sechzehnjährige setzte sich abrupt auf, griff unter seine Matratze und zog ein schmales Bündel Briefe heraus, das er Decker zuwarf. »Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen. Da hab ich angefangen, mein Zimmer aufzuräumen... weil... ach, keine Ahnung... ich musste einfach was tun. Die hier hab ich unter meiner Matratze gefunden. Ernesto muss sie hier versteckt haben.«
»Hast du sie gelesen?«
»Ja, hab ich.« Er wischte sich über die Augen. »Bei den Baldwins ging etwas sehr Merkwürdiges vor. Die haben was gemacht, das sie nicht hätten machen sollen. Und Ruby hing da mit drin. Ich hab das Gefühl, dass sie sie erpresst hat. Und ich glaube, Er- nesto wusste auch davon.«
Decker betrachtete die Briefe - drei Stück und kein Absender. Die Briefmarken stammten aus Oklahoma und trugen einen Poststempel von vor fünf, drei und zwei Monaten. »Hast du etwas dagegen, wenn ich sie gleich hier lese? Im Moment zählt jede Minute.«
»Nein, machen Sie nur.«
Decker nahm den ältesten Brief, der aus der Zeit unmittelbar nach Ernestos Vandalismusaktion datierte. Der Briefbogen selbst trug kein Datum. Er begann zu lesen:
Hey, mein kleiner Hengst, ob du's glaubst oder nicht, deine Züchtigungskönigin hat ein paar verirrte Gefühle, unter anderem
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