Der Väter Fluch
dass seine Männer nur zu zweit auf die Suche gehen durften, und sie ermahnt, immer dicht beisammenzubleiben, weil Rückendeckung die Grundvoraussetzung fürs Überleben sei. Außerdem war es über dreißig Jahre her, dass Decker seine Fähigkeiten als Dschungelkämpfer erprobt hatte. Aber die Stimme der Rache ließ sich nicht zum Schweigen bringen: vier Menschen erschossen und ein Mädchen fast totgeschlagen.
Er wusste, dass Martinez ihn nur zu gern begleitet hätte, und auch, dass Bert - ebenfalls ein Vietnamveteran - eine gute Spürnase und einen sechsten Sinn für Gefahren besaß. Aber er wollte nicht die Verantwortung für Berts Sicherheit übernehmen. So übertrug er seinem Detective vorübergehend die Leitung der Operation. Martinez ahnte, dass Decker etwas plante.
»Wohin gehst du?«
»Ich schau mich nur mal um. Bin in zwanzig Minuten wieder zurück.«
»Was meinst du mit >nur mal umschauen Du willst doch wohl nicht allein losziehen, oder?«
Aber Decker war bereits in Richtung der Bäume unterwegs und tat so, als würde er Martinez nicht mehr hören. Er hatte sein Funkgerät, sein Handy, eine Waffe, Munition und eine Taschenlampe dabei und war auf alles vorbereitet.
Die Nachtluft war erfüllt vom Geruch des feuchten Holzes und vom Sirren der Moskitos. Er fächelte sich das Gesicht und scheuchte Schwärme von Stechmücken auf, als er den kegelförmigen Strahl seiner Taschenlampe über den Waldboden gleiten ließ. Jeder seiner Schritte verkündete laut sein Kommen. In den ersten Minuten konnte er die anderen Suchtrupps noch hören, doch je tiefer er in den schwarzen Nebel des Niederwalds eintauchte, desto leiser klangen die Stimmen. Noch etwas tiefer in den Wald hinein... fünf Minuten, dann zehn, fünfzehn. In der Ferne glaubte Decker Frösche quaken zu hören, ein Laut, den seine Ohren schon seit langer Zeit nicht mehr vernommen hatten. Beruhigend, weil absolute Stille nur den Toten vorbehalten ist.
Weit weg von der Hektik und den Menschen, begann sein Gehirn, in viele Richtungen gleichzeitig zu denken.
In Vietnam hatte er meist die Aufräumarbeiten erledigt, nachdem der Vietcong irgendwo zugeschlagen hatte. Aber es hatte auch Zeiten gegeben, hauptsächlich gegen Ende seiner Dienstzeit, in denen er nur noch von unerfahrenen Rekruten umgeben war, wo er zum Point Man, zum Pfadfinder und Minenräumer seines Zugs, bestimmt wurde. Er hatte genug Draufgänger erlebt, die bei solchen Operationen beide Beine verloren, und er war alles andere als scharf darauf gewesen, einer von ihnen zu werden aber was blieb ihm übrig? Diesen Job einem der Neulinge zu überlassen, hätte bedeutet, sich seinen Sarg zu zimmern. Die ganze Zeit über war er von panischer Angst erfüllt gewesen, obwohl er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Offenbar war ihm das auch ziemlich gut gelungen - entweder das, oder die Männer unter seinem Kommando hatten ihrerseits viel zu viel Angst gehabt, um zu bemerken, wie unsicher ihr Anführer war.
Die Männer heil von Punkt A nach Punkt B zu bringen, während der VC versuchte, sie einzeln abzuknallen. Die Straßen freihalten, damit die Truppen ungehindert darüber marschieren konnten. Die Heckenschützen waren schon übel genug, aber nicht annähernd so Furcht einflößend wie die Landminen.
Er stellte fest, dass er schwitzte, obwohl die Luft sich abgekühlt hatte und alles feucht und glitschig war.
Bilder tauchten in seinen Gedanken auf.
Nachdem sie Ruby das Blut aus dem Gesicht gewaschen hatten, tastete Decker sie ab und versuchte festzustellen, ob ihr Körper unverletzt geblieben war. Ihre Wangenknochen schienen nicht gebrochen zu sein, genau wie ihr Unterkiefer, obwohl sich Haarrisse so nicht nachweisen ließen. Auch ihr Oberkiefer schien unversehrt zu sein, wenn man von den ausgeschlagenen Zähnen einmal absah. Die Nase war gebrochen, die Lippe gespalten, und beide Augen waren von den Schlägen völlig zugeschwollen. Sie würde eine ganze Weile Schmerzen haben, aber die Zeit und genügend Medikamente würden alle Wunden heilen - sogar sehr gut heilen, wenn ihre Eltern den richtigen Arzt finanzierten. Los Angeles war die Hauptstadt der Schönheitschirurgie, in der überkronte Zähne und Nasenkorrekturen völlig selbstverständlich waren.
Auch ihr Körper war misshandelt worden. Striemen von Peitschenhieben zogen sich wie purpurrote Schlangen über Rücken und Unterleib. Blaue Flecken übersäten Oberschenkel und Brust. Als er sie fand, war sie an Hand- und Fußgelenken
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