Der Väter Fluch
psychologischen Beratung unterziehst.«
»Ich brauche mehr als das.«
»Das denke ich auch.«
Ernesto hob abrupt den Kopf, überrascht von Deckers Offenheit.
Decker sagte: »Du wirst mit deinen Eltern sprechen müssen...«
»O nein - nein, nein, nein, nein! Das ist unmöglich! Ich verbiete Ihnen hiermit, meinen Eltern etwas von der Sache zu erzählen! Die Verwüstungen gebe ich zu. Ich glaube, dass Dad den Grund dafür kennen wird, denn ich bin mir sicher, dass er tief in seinem Innern alles über Großvaters Vergangenheit weiß. Aber er hat sich der Wahrheit noch nicht gestellt. Vielleicht wird er es auch nie tun. Wie auch immer - sie brauchen die Details nicht zu kennen. Meine Phantasien...«
»Wirst du mit deinem Therapeuten darüber sprechen?«
»Das würde ich gern. Wenn ich einen finde, dem ich vertrauen kann.«
Dabei hatte er Decker ohne zu zögern, all seine Gedanken mitgeteilt.
Ernesto schien sich an diesen Gedanken wieder aufzurichten. »Meine Eltern haben dieses überhöhte Bild von mir. Warum soll ich es ihnen völlig verderben? Sie glauben doch sowieso, dass ich ein Arschloch bin - ein verzogenes, reiches Jüngelchen, das mit dem Nationalsozialismus flirtet, weil es sich langweilt und ein Idiot ist. Was habe ich also noch zu verlieren? Ich sage Ihnen doch nur, was Sie schon von mir denken. Aber eigentlich bin ich gar nicht so. Ich meine, natürlich habe ich Probleme, aber ich bin mit Sicherheit kein Nazispinner. Fragen Sie doch einfach Jake.«
Decker spürte, wie sein Herz aussetzte, als der Name seines Stiefsohns fiel. Er gab keine Antwort.
»Wir sind früher auf die gleichen Partys gegangen«, erklärte Ernesto. »Alle wussten, dass Jakes Stiefvater ein großes Tier bei der Polizei ist. Wir waren zwar nicht eng befreundet, aber wir kannten uns.«
Was bedeutete, dass sie wahrscheinlich zusammen gekifft hatten. Decker schwieg. »Nicht, dass Jake je von Ihnen gesprochen hätte.« Ernesto starrte auf einen Punkt über Deckers Schulter. »Eigentlich hat er nie was Persönliches erzählt. Er hatte so eine Art, mit einem zu reden, ohne je ein Wort über sich selbst zu verlieren. So als ob er wirklich daran interessiert war, was im Leben der anderen lief. Darum sind ihm auch alle Mädchen nachgelaufen - deswegen und weil er so aussieht, wie er aussieht. Und ich? Ich hab immer gedacht, er hätte was zu verbergen. Genauso wie ein Cop, schätze ich. Ich hab ihn längere Zeit nicht mehr gesehen. Wie geht's ihm?«
»Wir reden besser wieder von dir, Ernesto. Was soll ich deiner Meinung nach dem Staatsanwalt sagen?«
»Wie wär's damit... dass ich Ihnen gegenüber eine Aussage machen wollte? Und dann basteln wir so lange daran herum, bis wir beide zufrieden sind.«
»Wie wär's, wenn du mir erzählst, was ich dem Staatsanwalt sagen soll?«
»Können Sie mir dabei nicht helfen?«
»Nein. Das würde bedeuten, dir die Worte in den Mund zu legen.«
»Schon gut. Ich lass mir selbst etwas einfallen. Was soll ich tun?«
Decker griff in seine Aktentasche und holte ein Blatt Papier und einen Stift heraus. »Fang einfach an zu schreiben.«
8
Sein Auftrag lautete, Hannah pünktlich um halb vier von der Schule abzuholen. Sich dagegen aufzulehnen, stand völlig außer Frage, denn Rina war immer noch mit den Aufräum- und Reinigungsarbeiten in der schul beschäftigt. Sie weigerte sich, den Altarraum zu verlassen, solange er sich nicht wieder in tadellosem Zustand befand. Völlig egal, ob Decker mitten in einer dringenden Untersuchung steckte - er würde alles stehen und liegen lassen müssen, um seinen väterlichen Pflichten nachzukommen.
Decker verstand, warum seine Frau so aufgewühlt war. Mit der Vorstellung, eine Synagoge in einer solchen Unordnung zu verlassen, konnte sie als Tochter von Überlebenden der Konzentrationslager nicht umgehen. Die Reinigungsaktion war für sie nicht nur ein Weg, das Geschehene zu verarbeiten, sondern bot ihr auch die Möglichkeit, aktiv etwas zu unternehmen - zu handeln, anstatt tatenlos herumzusitzen. Die Spurensicherung hatte den größten Teil des Nachmittags in Anspruch genommen, sodass die Synagoge jetzt auch noch voller Fingerabdruckpulver war. Die hasserfüllten Pamphlete und schrecklichen Bilder waren eingetütet und als Beweismaterial abtransportiert worden. Und obwohl es eine ganze Weile dauern würde, alle Teile des Puzzles zusammenzusetzen, war Decker davon überzeugt, den Fall aufklären zu können. Jetzt ging es erst einmal darum, die Schritte des Jungen
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