Der Väter Fluch
den beiden Baldwins. Vielleicht sollten Sie meinen Eltern mal eine Rechnung für Ihre Dienste schicken.«
Ein verlockender Gedanke - vor allem angesichts der Tatsache, dass die Baldwins bis zu dreihundert Dollar pro Stunde erhielten, so viel ungefähr, wie Decker am Tag verdiente kein schlechter Verdienst, solange man ihn nicht mit anderen verglich.
»Ich würde mich gern noch länger mit dir unterhalten, Ernesto, aber ich habe in zehn Minuten eine Besprechung.«
»Ich weiß, dass Sie losmüssen. Ach übrigens, in zwei Tagen hab ich meinen Schulabschluss in der Tasche. Wenn Sie noch nichts anderes vorhaben, könnten Sie ja vielleicht zur Abschlussfeier kommen. Ich hätte jedenfalls nichts dagegen.«
»An welchem Tag ist das?«
»Freitag, um sechs.«
Gerade noch mal davongekommen. »Da fängt der Sabbat an...«, sagte Decker.
»Ach ja. Stimmt. Tja, ich geh dann jetzt mal zu Brown. Nicht schlecht für einen Kriminellen, was? Danke, dass Sie mir den Deal angeboten und dichtgehalten haben. Damit haben Sie mir den Arsch gerettet. Ich schaff das jetzt. Sie werden schon sehen.«
»Freust du dich auf das Camp?«, fragte Decker.
»Ich glaub zwar nicht, dass ich es noch brauche, aber es gehört nun mal dazu. Kann schließlich nicht schaden. Da lernt man bestimmt eine Menge nützlicher Überlebensstrategien. Der Ausbilder ist ein ehemaliger Marineinfanterist. Klingt doch gut, oder?«
»Ja, spitzenmäßig«, erwiderte Decker.
Ernest verdrehte die Augen. »Ach, wird schon werden. Ich komm klar. Wie geht's Jacob?«
»Gut.«
»Ein Jahr hat er noch, stimmt's?«
»Ja, aber er geht zurück in den Osten.«
»Ehrlich? Wohin denn?«
»Er nimmt an einem Gemeinschaftsprogramm der Johns-Hopkins-Universität und einer jüdischen Hochschule teil.«
»Is ja cool«, sagte Ernesto. »Obercool. Ich weiß, dass er mit den Kumpels von meiner Schule nichts mehr anfangen kann, aber das macht nichts. Grüßen Sie ihn von mir.«
»Mach ich.«
Das Lächeln des jungen Mannes verwandelte sich in ein Grinsen. »Ich schick Ihnen mal 'ne Karte aus der Wildnis, per Brieftaube.«
Decker lachte. »Viel Glück!«
Als er gegangen war, wurde Decker klar, dass er den Jungen fast schon lieb gewonnen hatte - ihm alles Gute wünschte. Weshalb ihn der Anruf dann auch bis ins Mark erschütterte.
15
Es war nur ein Katzensprung von den letzten Einfamilienhaussiedlungen bis zum Waldrand, von der Zivilisation bis zu dem, was früher einmal die Weite der südkalifornischen Berge gewesen war. An den Hängen standen die frühsommerlichen Wildblumen in voller Blüte - eine Farbpalette, die von Dunkellila über leuchtend Gelb bis zu einem ganzen Spektrum von Grüntönen reichte. Ein paar Meilen weiter im Inneren dieses Gebiets, dort, wo die Hügel in felsige Gipfel übergingen und die unbezähmbare, üppige Vegetation zu einer endlosen Wildnis wurde, fanden Mervin Baldwins Naturcamps statt. Für die kräftig gebauten Jugendlichen, die Baldwins typische Klientel bildeten, war es ein Leichtes, innerhalb weniger Stunden zu den Einkaufszentren der Stadt zu laufen -was sie auch häufig taten. Meist wurden sie wieder aufgegriffen, zurückgebracht und bekamen zur Strafe noch ein paar zusätzliche Pflichten aufgebrummt. Mervin Baldwin fand es sowohl erfreulich als auch verzeihlich, dass diese Jungs willens und in der Lage waren, auch in unbekanntem Gelände zum heimatlichen Stützpunkt zurückzukehren.
Aber er hatte sich zum letzten Mal gefreut: Mervin Baldwin war tot, ebenso Ernesto Golding.
Die Sonne war gerade über dem Horizont aufgegangen und stand so tief, dass sie Decker direkt in die Augen schien. Es war kurz nach sechs in der Früh, und er hatte bereits die erste Thermoskanne mit Kaffee geleert. Normalerweise brachte er seinen Kreislauf morgens mit einem kurzen, heftigen Workout auf dem Laufband in Schwung, aber heute musste ein chemischer Kick diese Aufgabe übernehmen.
Er fuhr einen Jeep Cherokee, der einmal schwarz gewesen war, inzwischen aber dank einer feinkörnigen Staubschicht eher anthrazitfarben aussah. Als der Schotterweg schließlich in einer Sackgasse endete, schaltete er auf Allradantrieb und fuhr den felsigen Hang hinauf. Der Jeep rumpelte und holperte und näherte sich mit dröhnendem Motor dem Camp. Schon bald kamen ein paar Uniformierte in Sicht, deren Dienstwagen jeden Zentimeter des knapp bemessenen ebenen Geländes für sich beanspruchten. Decker lenkte den Jeep etwa fünfzehn Meter weiter nach links, wo er eine weitgehend
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