Der Väter Fluch
Stütze, die ich noch habe.«
Bevor Jacob am Morgen die Synagoge verlassen hatte, war es Decker gelungen, sich seine Zustimmung zu einem Gespräch mit Dr. Dashoff geben zu lassen. Decker wusste, dass er seinen Stiefsohn in einem schwachen Moment erwischt hatte, und fühlte sich bei diesem Gedanken nicht sehr wohl. Aber er brauchte einen Rat. Er hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter des Psychologen und ging davon aus, dass dieser ihn später am Abend zurückrufen würde. Zu seiner großen Überraschung meldete sich Dashoff bereits fünf Minuten später.
»Sie haben mich gerade vor meinem nächsten Termin um sechs Uhr erwischt.«
»Und Sie mich gerade noch, bevor ich gehen wollte«, sagte Decker. »Vielen Dank, dass Sie anrufen.«
»Keine Ursache. Was kann ich für Sie tun, Lieutenant?«
»Jake hat mir die Genehmigung gegeben, mit Ihnen zu sprechen.«
»Ich weiß. Er hat mich bereits informiert.«
»Oh, prima.« Decker zögerte. »Ich wüsste gern, ob Sie mir bei einigen seiner Probleme helfen könnten... natürlich ohne Ihre Schweigepflicht zu verletzen.«
»Welche Probleme genau?«
Decker zögerte erneut. »Er ist sehr zornig... das sagt er selbst.«
»Das stimmt. Er hat eine Stinkwut.« Die Stimme des Psychologen klang nicht nur völlig ruhig, er sprach fast im Plauderton.
»Worauf ist er so wütend?«, fragte Decker.
»Nennen Sie ein Beispiel«, erwiderte Dashoff.
»Ich glaube, er befürchtet, ein Soziopath zu sein. Er hat mich gefragt, ob die Beschreibung der Soziopathen, die ich verhaftet habe, auch auf ihn zutrifft.«
»Was haben Sie ihm gesagt?«
»Ich habe natürlich mit Nein geantwortet.«
»Und empfinden Sie das auch so?«
»Natürlich.« Aber Decker zögerte ein wenig zu lange.
»Jacobs Leben wäre viel einfacher, wenn er an Soziopathie litte«, erklärte Dashoff. »Dann würde er nämlich einfach sein Ding drehen, und bei seiner Intelligenz und seinem Aussehen wäre er wahrscheinlich bald ein erstklassiger Wirtschaftskrimineller. Stattdessen schlägt der Junge sich mit einem zu stark ausgeprägten Gewissen und einem pathologischen Schuldgefühl herum. Er schämt sich für sein früheres Verhalten den Drogenmissbrauch, den er Ihnen gestanden hat. Außerdem hat er eine Heidenangst, dass seine Mutter davon erfahren könnte. Ich habe eine Familientherapie vorgeschlagen, damit er ihr bestimmte Dinge in einer >geschützten< Umgebung beichten und einige seiner Schuldgefühle loswerden kann. Aber er ist noch nicht so weit. Er hat ein großes Bedürfnis, sie zu beschützen. Weiß Ihre Frau überhaupt, was hier vorgeht?«
»Sie weiß wesentlich mehr, als Jacob vermutet.« Pause. »Aber ich glaube nicht, dass sie etwas von der sexuellen Belästigung weiß. Jacob hat mir zu verstehen gegeben, dass mehr passiert ist als das, was er eingestanden hat.«
»Könnte man so sagen«, entgegnete Dashoff.
»Ist es schlimm?«
»Daran arbeiten wir gerade.«
»Und Sie können nicht mehr darüber sagen?«
»Zurzeit sind wir dabei, die Phantasie von den Fakten zu trennen. Selbst Jacob ist sich nicht vollkommen sicher. So erinnert er sich zum Beispiel, dass sein Peiniger gedroht hat, seine Mutter würde sterben, wenn er ihr erzählt, was passiert ist. Das ist die Erinnerung, die er Ihnen gegenüber zugegeben hat, richtig?«
»Ja.«
»Ich denke, dass die Drohung eher so klang: >Wenn du mich nicht das machen lässt, was ich will, dann werde ich deine Mutter umbringen.<«
»Hat er das gesagt?«
»Nein. Das ist meine Interpretation. Versetzen Sie sich doch mal in den siebenjährigen Jacob. Dieses Ungeheuer versucht seine Mutter zu vergewaltigen und umzubringen.
Der Junge muss doch annehmen, dass es irgendwie seine Schuld war. Wenn er dem Pä- derasten seinen Willen gelassen hätte, wäre seine Mutter außer Gefahr gewesen. Was natürlich nicht stimmt. Aber das kann ich ihm sagen, das können Sie ihm sagen, das kann die ganze Welt ihm sagen - dass es nicht seine Schuld ist. Dass ein Monster ein Monster ist und bleibt. Und auf intellektueller Ebene wird er Ihnen glauben und versichern: >Natürlich war es nicht meine Schuld.< Aber dieses fest verankerte Schuldgefühl loszuwerden, ist eine völlig andere Sache.«
»Und wie wird er es los?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ihm das überhaupt gelingen wird. Daher rate ich ihm, sich nicht um die Schuldfrage zu kümmern. Stattdessen sollte er sich auf das Resultat konzentrieren. Seiner Mutter geht es gut. Mehr als gut. Sie ist wieder glücklich
Weitere Kostenlose Bücher