Der Väter Fluch
verheiratet und hat Kinder, die sie über alles liebt. Möglicherweise geht es ihr in Wirklichkeit nicht gut, möglicherweise sogar sehr schlecht. Aber das ist nicht das Entscheidende. Wenn er sie als glücklich wahrnimmt, dann genügt das schon.«
»Es geht ihr gut«, sagte Decker. »Zumindest hat sie nie angedeutet, dass das nicht der Fall wäre. Ich glaube aber, dass sie sich noch wohler fühlen würde, wenn Jacob glücklich wäre.«
»Wenn das nicht das Mantra aller Eltern ist... Aber sie wollten meine Meinung hören: Jacob wird sich prächtig machen im College. Und hoffentlich gesellschaftlich anerkannte Wege finden, um all seine Energie loszuwerden. Was sein Seelenleben betrifft, wäre es gut, wenn er in Baltimore die Therapie fortsetzen würde. Seine Probleme lassen sich nicht auf die Schnelle lösen. Aber das weiß er selbst am besten.«
»Und was könnte ich tun?«
»Er redet doch mit Ihnen. Also scheint das, was Sie bereits tun, zu funktionieren. In zwei Minuten kommt meine nächste Patientin, und ich muss noch ihre Karteikarte heraussuchen.«
»Kann ich Sie wieder anrufen?«
»Wie wär's, wenn ich Sie anrufe, sobald Jake und ich der Meinung sind, dass wir miteinander reden sollten? So müssen Sie nicht ständig Jacobs Einverständnis einholen, und er bekommt nicht das Gefühl, dass Sie sich zu sehr einmischen.«
»Das klingt akzeptabel. Ich danke Ihnen.«
»Keine Ursache. Auf Wiederhören.«
Mit anderen Worten: Keine Neuigkeiten waren gute Neuigkeiten, und das bedeutete für Decker weniger überschüssige Magensäure.
14
Die Untersuchungen im Vandalismusfall stagnierten seit einiger Zeit, doch die Verbrechen hörten nicht auf. Angesichts der Flut von Vergewaltigungen, Körperverletzungen, Einbrüchen, Raubüberfällen, häuslichen Ruhestörungen und Autodiebstählen blieb auch Decker nur wenig Zeit, über die ehemals verunstaltete Fassade einer Synagoge nachzudenken, die inzwischen wieder in ihrem früheren, mittelmäßigen Glanz erstrahlte. Der oder die Täter hatten allerdings erreicht, dass der Dialog zwischen den Religionen über Hassdelikte nunmehr öffentlich geführt wurde. Rina hatte sich mitten ins Getümmel gestürzt und organisierte eine Diskussionsrunde nach der anderen. Das war wohl ihre Art, mit den Ereignissen fertig zu werden. Hin und wieder fragte sie, ob es schon Fortschritte bei der Suche nach weiteren Tätern gebe. Wenn er jedoch ausweichend antwortete, drang sie nicht weiter in ihn.
Die Monate flogen nur so dahin, und Deckers Familie erlebte eine wohlverdiente Phase der Ruhe. Seine Tochter Cindy beendete ihr zweites Jahr als Streifenpolizistin, diesmal ohne besondere Vorkommnisse - die einzigen finsteren Gestalten, mit denen sie zu tun gehabt hatte, waren tatsächlich Kriminelle gewesen. Jacob hatte die offizielle Zusage zur Teilnahme an einem Gemeinschaftsprogramm der Johns-Hopkins-Universität und einer Jeschiwa in Baltimore erhalten. Er arbeitete hart, ohne zu klagen, und behielt seine Ansichten in der Regel für sich. Decker widerstand dem väterlichen Drang, nicht allzu neugierig zu sein und ständig bei ihm anzurufen. Stattdessen konzentrierte er seine Energien auf Hannah, die seiner Aufmerksamkeit viel mehr bedurfte.
Im Juni, zu Beginn der Sommerferien, hatte Ernesto Golding schließlich seine neunzig Tage gemeinnütziger Arbeit abgeleistet. Von Zeit zu Zeit hatte er bei Decker vorbeigeschaut und ihm lang und breit von seiner Therapie erzählt. Endlich würde er sein Leben wieder in den Griff bekommen, und außerdem hätte die gemeinnützige Arbeit ihm sehr gut getan: Er bekam endlich mit, was draußen im richtigen Leben los war. Ihm sei schließlich klar geworden, dass er eigentlich noch gar nicht gelebt hätte, jedenfalls nicht in der Realität. Und er sei froh, dass Ruby endlich aus seinem Leben verschwunden war. Im Bett sei sie zwar einsame Spitze gewesen, aber ansonsten hätte sie ihm überhaupt nicht gut getan. Sie hätte ihm alle möglichen verrückten Ideen in den Kopf gesetzt. Er sei sich inzwischen nicht mal mehr sicher, ob sein Großvater wirklich ein Nazi gewesen war - vielleicht habe er sich das alles auch nur eingebildet, weil Ruby ihn völlig durcheinander gebracht hatte.
In drei Wochen würde Ernesto an einer »Naturtherapie« der Baldwins teilnehmen. »Freut mich, dass du so gut klarkommst«, hörte Decker sich sagen.
»Mich auch.«
»Bist du mit Dr. Baldwin zufrieden?«
»Um ehrlich zu sein, hab ich mit Ihnen wahrscheinlich mehr geredet als mit
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