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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Hawley
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anderswo und leuchteten mit so etwas wie einem Erkennen auf.
    Erfüllt von der Energie des Großen Mannes, vom beherrschenden Druck seiner Hände, der dem Würgegriff einer Python glich, wandte Carter den Kopf, weil er wissen wollte, wen oder was Seagram da sah, und es war Natalie, die rot anlief. Sie trug heute Abend etwas Neues, etwas, das sie sich vielleicht extra gekauft hatte, ein blaues Kleid, ärmellos, mittelang, tief ausgeschnitten. Das Haar hing ihr offen auf die Schultern hinunter, ihre Augen glänzten, und ihre Lippen glichen einer Frucht, die morgen schon überreif sein und zu einem schwarz anlaufenden, weichen Brei zusammenfallen würde.
    Carter wandte den Kopf gerade rechtzeitig zurück, um Seagrams Blick in Natalies Ausschnitt sinken zu sehen. Es war nur ein kurzer Blick, fast unmerklich, schon bewegten sich die Augen des Kandidaten weiter, aber Carter sah es, sah, wie dieser sogenannte «große Mann» die Brüste seiner Begleitung in Augenschein nahm. Er fühlte sich schwindelig, wie ein Ballon, der aus einem kleinen Loch Luft verlor, schwindelig, weil er mit einem Schlag seine Erwartungen zerstört sah und das Gefühl hatte, das Wahrzeichen, an dem er sich während der letzten Monate orientiert hatte, sei nichts als eine Illusion.
    Der Große Mann war kein großer Mann. Er war ein stinknormaler Mann, der vorgab, ein Großer zu sein, ein falscher Diamant, ein gewöhnlicher Körper, der schiss und fickte und geil war wie alle anderen auch.
    Als Carter das begriff, fasste Seagram gerade die Hand einer älteren Frau. Er posierte für ein Foto, das Lächeln wieder oberflächlich wie zuvor. Wie viele Hände hatte der Kandidat in den letzten drei Jahren wohl geschüttelt? Wie viele Ehefrauen und Freundinnen begafft? Carter sah dabei zu, wie Seagram sich in die Mitte des Raumes bewegte, wo er seinen Platz einnahm und sich für seine Rede bereit machte.
    «Das war irre», sagte Natalie.
    Carter sah sie an. Sein Gesicht schloss sich wie eine Tür, die vom Wind zugeschlagen wurde. Alle Magie, die von ihr ausgegangen war, war verschwunden, ausgelöscht wie eine Zigarette unter seinem Schuh. Sie war nicht länger die Muse, die ihn zum Lesen der großen russischen Romanciers inspirierte, nicht länger das helle Leuchtfeuer, das er in dunklen, trügerischen Nächten ansteuern würde. Mit einem Mal war sie nichts mehr als ein geistloses Landei, das sich von der Macht verführen ließ.
    Männer waren Raubtiere.
    Frauen waren die Beute.
    Er sah, wie Seagram in diesem rappelvollen Raum in Austin ans Podium trat und ins applaudierende Publikum grinste. Carter sah, wie die Frau des Kandidaten ihren Mann anschaute, mit Hoffnung und Liebe im Blick. Er hatte sie schon oft so im Fernsehen gesehen, und es hatte ihm das Herz erwärmt: zu wissen, dass eine Frau solch eine Liebe für ihren Mann empfinden konnte (und er für sie) und es Familien gab, in denen Vertrauen und Treue normale Bestandteile des Lebens waren.
    Aber als er jetzt zusah, wie Seagram die Hand seiner Frau nahm, als er sah, wie er sie auf die Wange küsste, begriff Carter, was diese Liebe tatsächlich war: ein weiterer großer Bluff. Seagram war nicht nur kein großer Mann (weil er seinen ordinären Begierden unterworfen war wie ein verwahrloster Trucker), er war auch nicht der hingebungsvolle Ehemann und verlässliche Vater, als der er sich darstellte. Er war so falsch, wie seine Marketingkampagne falsch war, er war nichts als ein weiterer amerikanischer Heuchler, ein heimlicher Schürzenjäger, ein Wolf im Schafspelz.
    Und es war in diesem Moment, dass in Carter zum ersten Mal der Gedanke aufblitzte, was er würde tun müssen. In hellem Licht sah er es vor sich, und die Vision war wie ein Schuss mit einem mächtigen Rückstoß, der ihn nach hinten warf.
    Hinterher, auf der Straße, als Natalie fragte, ob sie noch etwas trinken gehen wollten, erklärte er ihr, es tue ihm leid, aber er müsse am nächsten Morgen früh aufstehen. Er werde Austin verlassen, und er müsse noch packen und Proviant einkaufen. Er sah, wie verletzt und überrascht sie war, blieb aber nicht, um es ihr zu erklären. Er ließ sie einfach dort auf dem Bürgersteig stehen und mit ihrem Schicksal hadern.
    Als er ins Verbindungshaus kam, sprangen seine Mitbewohner gerade mit den Bäuchen gegeneinander. Es war ein langer Abend mit Wodka-Wackelpudding und Brennnesselgriffen gewesen, und sie warteten nur auf ihr nächstes Opfer. Carter versuchte sich zwischen ihnen hindurchzudrängen, um in

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