Der Vater des Attentäters (German Edition)
interessant, wie wir die Vergangenheit in unseren Köpfen neu schreiben und unsere Erinnerungen in den schmeichelhaftesten Farben malen? Bei meinen Patienten versuche ich nicht nur auf das, was sie sagen, zu achten, sondern auch darauf, was sie nicht sagen. Es ist nicht nur so, dass die Menschen Dinge verschweigen, die ihnen peinlich sind, oft blenden sie ihre schmerzvollen Erinnerungen ganz und gar aus. Sie erschaffen sich eine subjektive Wahrheit, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat. Hatte ich es mit Dannys Kindheit ebenso gemacht? Hatte ich aus einem ständig abwesenden einen liebenden, warmherzigen, allgegenwärtigen Vater gemacht?
Aber gab es nicht unzählige Kinder, die in zerbrochenen Ehen aufwuchsen? Litten nicht unzählige von ihnen unter Scheidung und Vernachlässigung, ohne zu Attentätern zu werden? So schmerzvoll es für mich sein mochte, mich diesen Wahrheiten zu stellen, eine Erklärung, eine Antwort auf die tiefergehende Frage nach einem möglichen Motiv boten sie nicht. Sie sagten mir nicht, was mich am meisten quälte: Warum hatte mein Sohn das Gefühl gehabt, einen anderen Menschen «töten zu müssen»? An welches Schicksal oder welche Vorsehung glaubte er, die ihn zur Ermordung eines amerikanischen Helden getrieben hatten?
Der Psychiater, der Daniel befragt hatte, hatte eine Art Tagebuch erwähnt, das dieser geführt habe. Ich musste dieses Tagebuch unbedingt sehen, musste die Sätze meines Sohnes lesen, um seine Reise und seine ganze Entwicklung zu verstehen. Was für Erkenntnisse verbargen sich auf den Seiten? Was für Details, die für einen Fremden bedeutungslos sein mochten, aber nicht für mich? Nachdem ich das psychiatrische Gutachten gelesen hatte, rief ich Murray an.
«Wir müssen es bekommen», erklärte ich ihm.
«Ich arbeite daran», sagte er. «Das Problem ist, dass er sich schuldig bekannt hat und der Richter es akzeptiert hat. Also gibt es keinen weiteren Prozess, und es heißt, das Tagebuch gehöre zur Phase der vorprozessualen Beweisaufnahme, und die sei nun nicht mehr nötig. Ich habe dem Typen, mit dem ich telefoniert habe, daraufhin erklärt, wenn sie es uns nicht zugänglich machten, würde er noch ganz andere Beweise von mir bekommen, nämlich meine Faust in seinen Arsch. Danach hat er im Grunde nicht mehr zurückgerufen.»
«Murray …», sagte ich.
«Ich weiß. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben den Antrag gestellt, es noch vor der Urteilsverkündung zu bekommen. Wenn es sein muss, gehen wir dafür bis zum Obersten Gerichtshof.»
Aber die Staatsanwaltschaft gewährte uns keinen Einblick in das Tagebuch und ließ sich auch gerichtlich nicht dazu zwingen. Und jetzt saß mein Sohn in der Todeszelle. Er hatte sich geweigert, Berufung einzulegen oder einen Antrag auf Strafminderung zu stellen. Es galt als Tatsache, dass er Seagram getötet hatte, und je mehr Zeit verging, desto weniger interessierte noch irgendwen, warum.
Bis auf mich. Ich kämpfte immer noch, bemühte mich immer noch darum, alles zu verstehen. Ich war die einsame Stimme im Dunkel, der abseits stehende Andersgläubige, der nach wie vor Fragen stellte.
Ich würde dieses Tagebuch bekommen, und wenn es das Letzte war, was ich tat.
Als er sie das nächste Mal sah, lud er sie zu einer Wahlveranstaltung ein. Es war Oktober, acht Monate vor dem Attentat. Der Präsidentschaftswahlkampf kam gerade in Fahrt. Senator Seagram wollte die Stadt besuchen, um für Unterstützung zu werben. Es würde Abendessen für potentielle Spender und Fototermine geben. Die Luft in der Wahlkampfzentrale summte vor Aktivität, sie hatten in sechs Monaten mehr als dreißigtausend Wähler registriert. Seagram wollte persönlich kommen und den Wahlhelfern für ihre engagierte Arbeit danken. Walter Bagwell, der die Zentrale in Austin leitete, rief alle zusammen und sagte, es sei «ein historischer Moment». Seagram sei im Begriff, der Favorit der Demokraten zu werden, und Texas habe eine große Rolle bei seinem Aufstieg gespielt.
Jemand aus den hinteren Reihen fragte, ob Seagram mit seiner Familie komme. Bagwell antwortete, nur seine Frau werde ihn begleiten, die Kinder müssten in die Schule. Carter Allen Cash dachte unwillkürlich an den Jungen im See, Seagrams durchs Eis gebrochenen Sohn – ob er selbst wohl auch einmal so einen Schmerz erleben würde? –, und gleichzeitig dachte er daran, Natalie zu fragen, ob sie mit ihm zu dem Meeting mit Seagram kommen wolle. Natalie. Es war fast eine Woche her, dass er
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