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Der Vater des Attentäters (German Edition)

Der Vater des Attentäters (German Edition)

Titel: Der Vater des Attentäters (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Hawley
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an. Ich spürte, wie viel ich mit meinem Aufenthalt hier riskierte. Ich hatte mich so gut gehalten, hatte mein Leben unter Kontrolle gebracht und die zwei Seelen in meiner Brust klar getrennt gehalten. Indem ich mitsamt dem Tagebuch hierher gereist war, brach ich mein Versprechen Fran, den Kindern und mir selbst gegenüber. Jetzt war ich ein Lügner, ein Hüter finsterer Geheimnisse.
    Es war dunkel im Zimmer, denn die Jalousien waren heruntergelassen. Mein Koffer lag wie eine Leiche auf dem Boden und sah mich an. Meine Hände zuckten nervös, und während ich den Koffer betrachtete, legte sich ein großes Gewicht auf mich, eine schwere Decke der Erschöpfung. War es mein Selbsterhaltungstrieb, der mich in den Schlaf fallen ließ? Eine übermächtige Niedergeschlagenheit? Was immer der Grund war, ich schlief wie ein Toter und wachte erst Stunden später wieder auf. Mit einem Gefühl von Panik, unsicher, wo ich war. Draußen ging gerade die Sonne unter.
    Der Koffer hatte sich nicht bewegt.
    Auf Socken ging ich hin und öffnete ihn einen Spaltbreit. Ich wühlte mich durch Anzugjacken und Toilettenartikel und holte die fotokopierten Seiten aus ihrem Umschlag. Sie rochen noch leicht nach Chemikalien, nach Toner und Hitze.
    Und dann, bevor ich mich wieder davonstehlen konnte, schaltete ich die Nachttischlampe ein und begann in ihrem Licht zu lesen.

 
     
    Auszüge aus dem Tagebuch von Carter Allen Cash, alias Daniel Allen, aus seiner Zeit in Montana
     
    Wer immer das hier in Händen hält: Dies ist ein privates Tagebuch! Wenn Sie es ohne Erlaubnis lesen, müssen Sie sofort aufhören! Diese Worte sind nicht für Sie gedacht. Sie können ihre volle Bedeutung nicht erfassen, sondern sie nur missverstehen.
     
    5. November
    Es schneit. Leicht bis mäßig. Richtung Norden auf der 287 konnte ich meinen Atem im Auto sehen. Muss die Heizung reparieren lassen. Bei Ennis musste ich anhalten und einen Pulli aus dem Kofferraum holen. Machte ein paar Sprünge, um das Blut in Gang zu bringen. Irgendwie werde ich den Gedanken nicht los, dass der Temperatursturz ein Zeichen für etwas Größeres ist. Der Winter als ein Symbol. Das Ende des Jahres. Der Tod.
    Fakt: So weit nördlich geht die Sonne gegen sechs unter. Wegen der Wolkendecke war es heute noch früher dunkel. Die nördlichen Wälder haben etwas Bedrückendes, anders lässt es sich nicht sagen. Die Bäume hier sind dicker, und ich fahre unzählige Kilometer, ohne eine Stadt zu sehen. Montana ist der Triumph der Natur. Hier geht’s ums Überleben.
    Heute Morgen fand ich mich plötzlich in Gedanken in Austin wieder. Es ist jetzt einen Monat her, dass ich da weg bin. Ich habe es beim Fahren ausgerechnet. Ein Monat: Das Wort hat mal was bedeutet, war ein Zeitmaß bestehend aus Werktagen und Wochenenden, aber jetzt ist da nur die Straße. Der Sonnenaufgang und der Sonnenuntergang. Es gibt Tankstellen und Rastplätze, Meilenangaben und zwei Spuren Asphalt. Manchmal fahre ich so lange, ohne ein Auto zu sehen, dass ich Angst habe, ich bin über den Rand der Erde hinaus.
    Um mich zu beschäftigen, nehme ich meine eigenen erfundenen Geschichten auf Band auf. Ich denke mir einen Mann aus, der die endlosen Wälder hier als Erster gesehen hat. Er ist ein Forschungsreisender, hat einen Vollbart und reitet ein schweres Packpferd, aber das Pferd bricht sich nach dem ersten Schneefall in einem versteckten Erdloch ein Bein, und er muss es erschießen.
    Der Winter ist fürchterlich hart, der Forscher verliert dreißig Pfund und muss das Leder seiner Schuhe essen. Nachts hört er Wölfe um sein winziges Lager kreisen. Sie heulen und wollen ihm an den Kragen. Irgendwo wartet eine Frau auf ihn, und ein Sohn, der nicht mehr weiß, wie das Gesicht seines Vaters aussieht. Wenn er sich wieder mal völlig niedergeschlagen fühlt, sagt sich der Forscher, dass er das alles tut, damit andere einmal Licht sehen werden, wo es für ihn noch dunkel war. Sie werden seine Karte haben, werden versteckten Erdlöchern ausweichen und Sackgassen vermeiden können. Es wird keine Geheimnisse mehr geben. Er wird sie alle offenlegen, alle.
    An manchen Tagen geht die Sonne überhaupt nicht auf.
     
    7. November
    Der Automechaniker wollte dreihundert Dollar für die Reparatur. Ich habe mich bedankt und bin zu einem Army-Laden gefahren. Für hundert Dollar habe ich mir da Handschuhe, einen wärmeren Mantel und ein Paar Stiefel gekauft, die ziemlich wasserdicht aussehen. Allerdings habe ich eine Mütze vergessen und mir

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