Der Venuspakt
ich träume schon lange davon, eine Reise zu
den magischen Orten dieser Erde zu machen.»
«Und jetzt hast du im Lotto gewonnen und willst gemeinsam mit dem gan-
zen Hexenzirkel verreisen?» Es war eine plötzliche Eingebung gewesen, der
ich mit dieser Frage folgte, und der Gedanke schien mir so absurd, dass ich
lachen musste.
«Nuriya, wie wundervoll! Ich wusste, dass du eines Tages zur Magie zurück-
finden würdest. Selena wird so glücklich sein, wenn du ihr hilfst, den Buchla-
den während unserer Abwesenheit zu beaufsichtigen.» Waren meine Fähig-
keiten so stark geworden, dass sie sogar über das Telefon funktionierten? Oder
hatte da ein kleiner Zauber meiner Schwestern nachgeholfen?
«Ich habe doch gar keine Ahnung vom diesem Esoterik-Kram!» Selbst in
meinen Ohren klang meine Stimme etwas schrill.
Tante Jill ignorierte die abfällige Bemerkung. «Du musst einfach nur gele-
gentlich nach dem Rechten schauen. Für alles andere ist Selena zuständig. Ich
habe bereits mit ihr gesprochen. Du wirst sehen ...», fügte sie zuversichtlich
hinzu, «alles wird gut!»
«Wenn du meinst», entgegnete ich schwach. Aber darauf antwortete mir
nur noch das Freizeichen.
Nach dem Telefonat joggte ich zu meinem Lieblingsplatz am Fluss. Die Park-
bank lag versteckt und schmiegte sich an eine alte Eibe. Der Baum war wun-
derbar kräftig und von hier hatte man einen atemberaubenden Blick über das
breite, träge dahinfließende Gewässer. Aber das wussten nur wenige.
Die Beine hochgezogen und das Kinn auf die Knie gestützt, beobachtete
ich eine Gruppe Enten dabei, wie sie hungrig gründelten, immer auf der Hut,
den eleganten, aber aggressiven Schwänen nicht ins Gehege zu kommen. Die
Enten waren meine Freunde und ich vergaß nie, ihnen ein wenig Brot mitzu-
bringen.
Die Tante hatte Recht. Ich war schon ewig fort. Nach dem Abitur waren
meine wenigen Bekannten in die Welt hinausgezogen, um zu studieren, ich
ebenfalls.
Meine sozialen Kontakte beschränkten sich im Wesentlichen auf die mor-
gendliche Begrüßung des Zeitungsverkäufers und auf die regelmäßigen Tele-
fonate mit Tante Jill. Mit Ausnahme einiger unerquicklicher Begegnungen
war auch mein Liebesleben praktisch nicht existent.
Der Blick in den Spiegel bewies mir täglich, warum das so war – abgesehen
von meiner beunruhigenden Wirkung auf Normalsterbliche, meine ich. Ich
war bleich wie ein Gespenst. Mein Gesicht wurde von zwei viel zu weit aus-
einander liegenden Augen bestimmt und einem eindeutig zu großen Mund.
Außerdem war mein Hintern zu dick, die Hände kräftig – ›knubbelig‹ hatte
sie mein Vater immer genannt – und an das eigenwillige rote Haar wollte ich
gar nicht erst denken.
Was sprach eigentlich dagegen heimzukehren? Ich würde mich im Hause
meiner Eltern wohl fühlen zumal ich dort noch immer mein eigenes Zimmer
besaß, das stets eine gemütliche Trutzburg gegen alles Schlechte und Beunru-
higende gewesen war. Arbeiten würde ich dank Internet und meines neuen
Macs auch von dort aus können und Selena war ja sowieso meistens unter-
wegs. Hinzu kam eine gehörige Portion schlechten Gewissens. Jill hatte mir
in der Vergangenheit als gute Freundin zur Seite gestanden und trotz meiner
Feindseligkeiten alles getan, um uns den schmerzlichen Verlust der Eltern er-
träglicher zu machen. Es wurde Zeit, dass ich mich revanchierte.
Tante Jill organisierte ihre Weltreise so eilig, dass sie schon fort war, als ich
mich aufmachte, das nächste Jahr als Geschäftsführerin einer kleinen Buch-
handlung zu verbringen.
Anstelle eines Taxis begrüßte mich eisiger Wind am Flughafen. Selena war
natürlich auch nicht erschienen, um mich abzuholen. Deshalb spurtete ich
zur Haltestelle und erreichte den abfahrbereiten Shuttle-Bus gerade noch
rechtzeitig. Viel Gepäck hatte ich glücklicherweise nicht dabei.
Der Nachmieterin hatte ich heute früh die Schlüssel für mein kleines Ap-
partement in die Hand gedrückt. Meine wenigen Habseligkeiten waren be-
reits gestern von einer Spedition abgeholt worden.
Beim Anblick der alten Fachwerkhäuser meiner Heimatstadt, die sorgsam
restauriert, aneinander gelehnt die Straßen säumten, spürte ich plötzlich das
vertraute Flattern in der Magengegend, das sich regelmäßig einstellte, wenn
außergewöhnliche Ereignisse ihre Schatten vorauswarfen.
Je näher ich meinem Ziel kam, desto deutlicher wurden die Veränderungen,
die in diesem Viertel stattgefunden hatten. Bäume
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