Der Venuspakt
waren frisch gepflanzt und
parkende Autos in eine Tiefgarage verbannt worden. Viele neue Geschäfte
und Cafés lockten die für diese Uhrzeit ungewöhnlich zahlreichen Passanten.
Kein Zweifel, die Gegend war in Mode gekommen und merkwürdigerweise
gefiel mir das gar nicht. Ich fühlte mich fremd, einer Jugenderinnerung be-
raubt, ausgeschlossen und einsam. Bedrückt trottete ich an fröhlichen Passan-
ten vorbei, bis ich endlich vor dem Buchladen meiner Tante stand.
Warmes Licht fiel von innen auf das Kopfsteinpflaster und neugierig spähte
ich durch die einladenden Sprossenfenster. Über teuren Bildbänden, die dort
ausgestellt waren, hing ein Hinweisschild, das weitere Kostbarkeiten im Inne-
ren versprach und auf das gut sortierte Antiquariat aufmerksam machte. «Hier
hat sich ebenfalls einiges getan», murmelte ich missmutig, als ich schließlich
die drei steinernen Stufen erklomm, um in den Laden einzutreten, der um die-
se Zeit früher immer schon geschlossen gewesen war. Kaum aber hatte ich das
Geschäft betreten, schlug mir der feine Duft von Weihrauch, Kräutern und
altem Papier entgegen. Nicht alles hatte sich verändert. Ich atmete tief durch,
schloss kurz die Augen und war zu Hause.
Doch dann nahm ich ungewöhnliche Geräusche wahr, die aus dem Win-
tergarten im hinteren Teil des Geschäfts zu kommen schienen. Neugierig um-
rundete ich dicht gefüllte Büchertische und fand mich, von den Besuchern
offenbar unbemerkt, als Zuhörerin einer literarischen Veranstaltung wieder.
Mit ruhiger Stimme trug dort Selena zarte Gedichte über die Magie der Liebe
vor und wirkte dabei wie ein gänzlich unirdisches Geschöpf aus einer ande-
ren Dimension.
Meine kleine, zurückhaltende Schwester strahlte eine Selbstsicherheit aus,
wie ich sie bisher nur von Estelle kannte. Während ich noch überlegte, was
diese augenfällige Veränderung verursacht haben könnte, glitt mein Blick
über das Publikum. Vor mir hockten, wie Raben, mindestens dreißig Gothics,
die konzentriert dem Vortrag lauschten.
Ich stellte meine Reisetasche behutsam ab. Das dabei verursachte Geräusch
veranlasste eine Zuhörerin, sich mit tadelndem Blick nach mir umzusehen.
Die Lesung war kurz darauf zu Ende und die Gäste applaudierten. Einige
machten sich auf den Heimweg, andere scharrten sich eifrig um die kleine
Bühne, als hofften sie, mit der Vorleserin ein paar Worte wechseln zu können. Selena.
Ohne darüber nachzudenken, hatte ich ihr einen Gedanken gesandt. Mit-
ten im Gespräch hob sie ihren Blick und schaute mich an. Es war, als stünde
die Welt für einen Augenblick still und zwei verwandte Seelen hätten einan-
der wiedergefunden. Magie tanzte um ihr nachtschwarzes Haar und meine
Schwester schwebte mehr, als dass sie mir entgegenschritt, streckte beiden
Arme aus, während sie mit weicher Stimme sagte: «Willkommen zu Hause!»
«Seit wann werden hier Gruftie-Lesungen gehalten?»
Eine Besucherin starrte mich verständnislos an.
«Was?!», fauchte ich und beobachtete mit Genugtuung, wie die restlichen
Gäste eilig den Laden verließen. Als die Türglocke endlich verstummt war,
wandte ich mich wieder Selena zu. «Wir sprechen uns morgen um neun Uhr.
Pünktlich!» Dann schnappte ich meine Tasche, stürmte hinaus und nahm das
nächste Taxi zum Haus meiner Familie.
Das war nicht nett!
Ich wünschte mir nicht zum ersten Mal, dass diese Stimme verstummen
möge. Die Visionen, das plötzliche Eintauchen in die Gedanken anderer, die
Magie – all das hatte ich in den letzten Jahren unterdrücken und vergessen
können. Nur diese verdammte Wesenheit hörte nicht auf, mir bei jeder Ge-
legenheit unaufgefordert Ratschläge zu erteilen. Sie begleitete mich, solange
ich denken kann, und kritisierte meine Entscheidungen, tröstete mich aber
auch, wenn Kummer und Einsamkeit zu groß wurden. Wer bist du? , hatte ich als kleines Mädchen gefragt. Doch ausnahmsweise
verstummte die lästige Stimme damals und so gab ich ihr den erstbesten Na-
men, der mir in den Sinn kam: Ninsun.
Sie schien damit einverstanden zu sein – jedenfalls beschwerte sie sich nie
– und stand unerschütterlich zu mir, sosehr ich auch gelegentlich versuchte,
sie zu ignorieren.
Du hättest sie nicht so beleidigen dürfen.
Aber hast du nicht gesehen? Selena benimmt sich, als wäre sie hier zu Hause!
Ich hasste es, mit Ninsun zu streiten. Irgendwie verstand sie es immer, die
Dinge so darzustellen, wie es ihr gefiel, und obendrein behielt
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