Der Venuspakt
klang wie eine Anschuldigung.
«Darf sie nicht selbst entscheiden, wen sie trifft?», fragte er aggressiv. Doch
dann besann er sich und fuhr mit der Hand durch sein Haar. «Hör zu, ich will
ihr nichts tun. Im Gegenteil, sollte jemand versuchen, Selena auch nur ein
Haar zu krümmen, ich könnte für nichts garantieren!»
Estelles Züge entspannten sich ein wenig. Sie schien die Ehrlichkeit in Erik
zu spüren. Er selbst war überrascht, wie ernst es ihm damit war.
«Wie du weißt, fliege ich morgen nach Paris und kann sie nicht mehr be-
schützen. Unsere Tante ist viel zu vertrauensselig.» Müde lehnte sie sich ge-
gen seinen Wagen.
«Können wir reden?»
Er schaute sich unsicher um. «Nicht hier.» Erik drückte ihr seine Karte in
die Hand und sagte: «Ruf mich an!»
Sie nickte und ging wortlos davon.
Kurz vor Mitternacht spürte Erik ihre Anwesenheit. Sie hatte sich nicht die
Mühe gemacht anzurufen und ein Treffen zu vereinbaren, sondern war statt-
dessen gleich selbst gekommen. Er musste lächeln. Sie riskierte viel, ihn hier,
gewissermaßen in der Höhle des Löwen, aufzusuchen. Nun gut, ›Löwe‹ war
nicht ganz korrekt, dachte Erik belustigt. Aber andererseits konnte sie so am
meisten über ihn erfahren.
Er öffnete die Tür, noch bevor sie läutete.
«Komm herein!»
«Vielleicht ist es Schicksal, dass ihr euch heute begegnet seid», eröffnete
Estelle das Gespräch, nachdem sie sich neugierig in seinem karg möblierten
Appartement umgeblickt hatte.
Und dann erzählte sie ihm von der ältesten Schwester, die seit dem Tod der
Eltern ihre Magie verleugnete und nur noch selten Kontakt zu ihnen hatte.
Als der Damm erst einmal gebrochen war, sprudelten die Worte aus ihr he-
raus, als hätten sie nur auf die Gelegenheit gewartet, sich aus dem engen Ge-
fängnis ihrer Seele zu befreien.
Die Zwillinge lebten im Hause ihrer Eltern und Tante Jill versuchte, ihre
magischen Fähigkeiten zu fördern und zu begleiten, so gut sie es eben konnte.
Doch Jill war eine Verwandte ihres Vaters und kein Feenkind. Sie hatte großes
Kräuterwissen und konnte manchmal in die Zukunft sehen, doch über die
magische Welt wusste sie wenig.
Estelle, als die ältere der Zwillinge, fühlte sich für ihre kleine Schwester ver-
antwortlich. Selena war schon immer viel sensibler gewesen; ihr machten die
Schwingungen und Gedanken anderer, die auch sie wahrnahm, aber kaum
filtern konnte, große Angst. Deshalb hatte Estelle begonnen, sie systematisch
abzuschirmen und ihren eigenen mentalen Schutzschild auf sie auszuweiten.
«Doch ich frage mich seit geraumer Zeit, ob das nicht ein Fehler war. Ur-
sprünglich wollte ich auch nicht fort, obwohl es schon immer mein Traum
war, nach Paris zu gehen. Aber Selena hat mich immer wieder heftig dazu ge-
drängt. Schließlich habe ich eingesehen, dass sie einfach mehr Raum für sich
selbst braucht. Mental kann ich sie auch weiter schützen», fügte sie trotzig
hinzu.
Erik hatte Estelle nicht unterbrochen. Er war erschüttert, dass diese hochta-
lentierten Feenkinder völlig auf sich gestellt waren und griff spontan nach ih-
rer Hand: «Ich werde nicht zulassen, dass Selena etwas geschieht!» Er öffnete
sich ihren Gedanken und erlaubte ihr einen tiefen Blick in seine Seele.
Estelle nickte schließlich und sagte: «Ich vertraue dir! Aber du darfst Selena
nicht sagen, was du bist. Sie würde es nicht verstehen.»
Erik war nicht glücklich mit dieser Bedingung, doch sie beharrte darauf und
schließlich stimmte er zu.
Es war weit nach Mitternacht und Erik schlug vor, Estelle nach Hause zu be-
gleiten. Als er sich von ihr verabschiedete, stellte sie sich auf die Zehenspitzen,
gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und flüsterte: «Hab keine Angst
– deine Familie wird deinen Weg eines Tages respektieren!»
Das Feenkind hatte Dinge in seiner Seele gelesen, die er lieber vor sich und
der Welt verborgen gehalten hätte.
Seit jener Nacht wachte er über Selena. Sie waren sich schnell näher gekom-
men. Selena war alles, was er sich von einer Gefährtin erhoffen konnte, und er
liebte sie jeden Tag mehr. Mit Estelle hatte er ein paar Mal telefoniert und sie
allmählich überzeugt, ihre mentale Kontrolle über die Schwester zu lockern.
Gleichzeitig versuchte er behutsam und mit einigem Erfolg, Selenas Instink-
te zu stärken. Sie war aufgeblüht und selbstbewusster geworden und schien
ihm, falls das möglich war, noch anziehender als je zuvor.
Sein
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