Der Venuspakt
Vorwurf fiel ihr wieder ein. War es ein Fehler gewesen, ihr Erbe nicht
anzunehmen? Hatte sie ihre Schwestern im Stich gelassen und damit unbeab-
sichtigt in Gefahr gebracht? Nuriya wünschte sich, Ninsun würde ihre Fragen
beantworten. Aber ihre sonst so schwatzhafte Ratgeberin flüsterte nur: Die Antwort liegt in dir selbst, Nuriya!
Kapitel
Nachdem Erik die Schwestern nach Hause gebracht hatte, wählte er den län-
geren Heimweg, der durch den einsamen Stadtpark führte. Ein Risiko, denn so
kurz vor einer Vollmondnacht, reichte schon ein aufgescheuchtes Kaninchen,
um seinen Jagdinstinkt zu wecken und möglicherweise unerwünschte Auf-
merksamkeit auf sich zu lenken. Aber Erik wollte nachdenken und das gelang
ihm am besten unter freiem Himmel.
Heute hatten sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet. Zum
ersten Mal traf er Selenas andere Schwester, und auch ohne den Zwischenfall
im Café war ihm klar, dass sie Ärger bedeutete.
Den Betrunkenen hätte jeder Werwolf mit nur einem Hauch von Magie im
Leib problemlos vertreiben können. Und er war sich sicher, dass dies auch die
beiden Vampire wussten. Dennoch hatten sie eingegriffen und damit mehr
Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als ihnen lieb sein konnte. Erik wusste ei-
niges über die magische Welt, aber noch nie war er mächtigeren Vampiren be-
gegnet. Beide trugen die Dunkelheit nicht als schützenden Mantel, wie er es bei
anderen Kreaturen der Nacht bisher gesehen hatte. Stattdessen waren sie die
Finsternis selbst, so als entspränge tief in ihnen ein Quell tödlicher Schatten.
Erik wusste nicht, wen er mehr fürchten sollte; den im Vergleich nahezu
harmlos wirkenden Kurzhaarigen, der Selena mehr als einmal durchdringend
angestarrt hatte, oder dessen finsteren Begleiter, der sich Nuriya gegenüber
verhielt, als gehöre sie ihm. Oh ja, dieses Mädchen bedeutete großen Ärger
und Gefahr für sie alle.
Doch da er nicht die Fähigkeit besaß, in die Zukunft zu schauen, musste er
abwarten, was das Schicksal für sie bereithielt, und konnte nur hoffen, sie so
gut wie möglich zu schützen. Seiner süßen Lena zuliebe.
Während er sich ins frisch geschnittene Gras legte und die Sterne betrachte-
te, dachte der verliebte Werwolf an jenen Tag im September zurück, an dem er
Selena zum ersten Mal begegnet war.
Die Zwillinge wollten eine Abschiedsparty für Estelle organisieren, die in
der folgenden Woche nach Paris abreisen sollte, um dort zu studieren. Christi-
an, ein sterblicher Bekannter, hatte ihn überredet mitzukommen. Er schwärm-
te in den höchsten Tönen von den beiden Gastgeberinnen.
Eigentlich war Erik nicht in Feierlaune. Er hatte sich mit seinem dominan-
ten Vater gestritten, der wieder einmal von ihm forderte, endlich seinen Platz
in der Gemeinde einzunehmen.
Doch Erik war fort von ihnen und in diese Stadt gezogen, um hier ein Le-
ben – fernab der Politik und Intrigen seiner Familie – unter ganz normalen
Sterblichen zu führen. Obwohl er immer schon als Einzelgänger galt, vermiss-
te der junge Werwolf manchmal die Nähe und den engen, auch körperlichen
Umgang, den seine Familie pflegte. Wenn sie zusammentrafen auf einem der
unzähligen Feste, bei Familienfeierlichkeiten oder an den Wochenenden, ver-
ging kein Moment, an dem man sich nicht einen Arm um die Schulter leg-
te, im Gespräch kurz berührte oder zumindest sehr nahe beieinander saß. Es
schien, als wollte sich ein jeder pausenlos versichern, dass er noch dazugehör-
te und akzeptiert war.
«Wenn ich hier wirklich leben will, dann sollte ich am besten gleich damit
anfangen, Freunde zu finden!», überlegte er sich und versprach schließlich,
den Freund zur Party zu begleiten.
Schon während sie vor dem Haus der Zwillinge aus dem Wagen stiegen,
spürte er die Magie. Am liebsten wäre Erik gleich wieder umgekehrt, aber wie
hätte er diesen plötzlichen Rückzug seinem Freund erklären sollen?
Und so betrat er, neugierig darauf, was ihn erwarten würde, einen verwun-
schenen Garten. Das Haus, beinahe schon eine kleine Villa, hatte sicher besse-
re Tage gesehen. Es war nicht ungepflegt, aber ein wenig Farbe und vielleicht
ein neues Dach, hätten ihm gut getan. Auch der Garten wirkte, mit seinen
dichten Sträuchern, die das Anwesen vor neugierigen Blicken der Passanten
verbargen, ein wenig vernachlässigt.
Dennoch strahlte alles eine herzliche Wärme und Freundlichkeit aus. Hier
drohte ihm keine Gefahr, dachte Erik, und folgte dem Freund
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