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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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chinesischen Pantöffelchen in einen Versandumschlag steckte, hörte sie die Schweizer Kuhglocke läuten. Als sie um die Ecke bog, stand Samuel Crapper am original viktorianischen Schalter. Die Spitzen seines ockerbraunen Haars standen triumphierend ab.
    »Gestern wurde Ihre Brieftasche abgegeben. Tut mir leid, ich wollte Sie noch anrufen«, sagte sie.
    »Ach ja?«, sagte er. »Ich habe noch gar nicht gemerkt, dass ich sie verloren habe. Eigentlich bin ich hier, weil ich ausnahmsweise einmal etwas gefunden habe.« Er hievte eine große Tragetasche auf den Tresen. »Die stand auf dem Platz neben mir auf der Bakerloo Line, und nachdem alle anderen Fahrgäste ausgestiegen waren, befand sie sich immer noch dort. Ich hatte vergessen, sie bei Ihnen vorbeizubringen, daher stand sie jetzt leider ein paar Tage bei mir zu Hause herum. Ich kann mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, was das sein könnte.«
    Hebe Jones nahm einen Gegenstand aus der Tasche und betrachtete ihn. Als sie irgendwann die Sprache wiederfand, sagte sie: »Das ist eine Sammlung von Regenproben.«

KAPITEL NEUNZEHN
    Balthazar Jones stand auf der Brücke über dem Rabenfriedhof, wo ein winziges, frisch angelegtes Grab die sterblichen Überreste einer Etruskerspitzmaus enthielt. Als er sah, wie die Arbeiter im Festungsgraben die Gehege abbauten, überwältigte ihn wieder das Gefühl der Leere. Er konnte das nicht länger mit ansehen und ging zurück in die Water Lane, vorbei am Bloody Tower mit seinen roten Kletterrosen, die vor dem Mord an den beiden kleinen Prinzen schneeweiß geblüht haben sollen. Ohne zuvor sicherzustellen, dass er nicht beobachtet werden würde, schloss er die Tür zum Develin Tower auf und fegte das Stroh zusammen, das einst den Bauch des Bartschweins gewärmt hatte. Als er mit dem Besen in der Ecke hinter dem riesigen Steinkamin herumfuhrwerkte, brachte er Hebe Jones’ vergammelte Pampelmuse zum Vorschein.
    Unter einem endlosen aschgrauen Himmel durchquerte er die Festung und stieg ein letztes Mal die Wendeltreppe des Brick Towers hinauf. Das Gestänge der Voliere hatten die Arbeiter bereits entfernt, ebenso die Kübel mit den Bäumen und die Sitzstangen. Von den ehemaligen Bewohnern waren nur die Körnerspelzen, der ausgetrocknete Vogeldreck und die weißen Federn des Wanderalbatros geblieben. Als er den Boden fegte, kam ihm das Gespräch in den Sinn, das er inmitten der Vögel mit Rev. Septimus Drew geführt und das ihn dazu bewogen hatte, irgendetwas zu tun, um seine Frau zurückzuerobern. Doch obwohl er seine Regenproben in der U-Bahn stehen gelassen hatte, war von ihr keinerlei Lebenszeichen gekommen. Unvermittelt drang die Klinge in seinem Herzen noch einmal tiefer ein.
    Er nahm seinen schwarzen Müllsack und wollte schon gehen, als sein Blick auf etwas auf der Fensterbank fiel. Aus der Nähe erkannte er eine der Augenbrauenfedern des Albert-Paradiesvogels, die doppelt so lang waren wie sein gesamter Körper, was frühe Ornithologen so sehr erstaunt hatte, dass sie das erste ausgestopfte Exemplar glatt für taxidermische Trickserei gehalten hatten. Er nahm die bezaubernde blaue Feder, hielt sie ins Licht und ließ sie dann langsam durch seine Finger gleiten. Dann rollte er sie zusammen und steckte sie in die Tasche.
    Als er zum Salt Tower zurückging, wurde er von einem amerikanischen Touristen angesprochen, der wissen wollte, ob er der Wärter der Königlichen Menagerie sei.
    »Das bin ich«, antwortete er.
    »Es ist eine Schande, dass die Tiere der Königin wieder in den Zoo zurückgebracht wurden«, sagte der Besucher und rückte seine Baseballkappe zurecht. »Es hieß, die Weißkopf-Büschelaffen solle man sich um keinen Preis entgehen lassen.«
    Balthazar Jones stellte seine Tasche ab. »Vielleicht war es das Beste so«, sagte er und erzählte dem Mann von dem Wanderalbatros, der um sein Leben gebalzt und etliche Federn verloren hatte, weil seine Gefährtin im Zoo geblieben war.
    » Home is where the heart is , wie wir zu sagen pflegen«, befand der Amerikaner mit einem Lächeln, aber der Beefeater war zu keiner Antwort fähig.
    Er nahm seine Tasche, ging quer über den Rasen vor dem White Tower und betrachtete die kahlen Stellen, die das Gehege der Grünen Ringbeutler und des Sugargliders hinterlassen hatte. Plötzlich hörte er einen Schrei und drehte sich um. Der Rabenmeister stand vor dem Käfig der widerwärtigen Vögel und rief seine Schützlinge mit jämmerlicher Stimme herbei, um sich von ihnen zu

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