Der verborgene Charme der Schildkröte
berichten, und wir beide werden wie Vollidioten dastehen. Da ruf ich lieber beim Zoo an und erkläre, dass wir uns die Giraffen nur ausgeborgt haben. Wenn wir Glück haben, werden sie sich nicht allzu sehr aufregen, und dann können wir sie in ein paar Monaten zurückschicken, wenn sich die Dinge beruhigt haben. Wenn sie Schwierigkeiten machen, werde ich sie daran erinnern, was sie mit Jumbo, dem Elefanten, angestellt haben.«
»Was haben sie denn mit Jumbo, dem Elefanten, angestellt?«, fragte der Beefeater.
»Sie haben ihn an Barnum verkauft, den amerikanischen Zirkusmann. Für zweitausend Pfund. Das hat einen Riesenkrach gegeben. Die Times hat zig Leserbriefe bekommen, sämtliche Kinder in Großbritannien waren in Tränen aufgelöst, und Königin Viktoria war stocksauer.«
Oswin Fielding lehnte sich mit einem Seufzer zurück, der Tote hätte auferwecken können. »Lebt diese Etruskerspitzmaus noch?«, fragte er.
»Heute Morgen habe ich sie noch gesehen.«
»Das ist immerhin etwas.«
Als der persönliche Diener Ihrer Majestät und der Beefeater gegangen waren, räumte Ruby Dore ihre Gläser ab und schaute durchs Fenster, ob es noch schneite. Sie sah die beleidigende Bemerkung, die im achtzehnten Jahrhundert über die Körperhygiene des Wirts in die Fensterscheibe geritzt worden war, aber von Schnee war dahinter nichts mehr zu sehen. Enttäuscht dachte sie an die Winter ihrer Kindheit, wenn ihr Vater sie auf dem Schlitten durch den Festungsgraben gezogen hatte. Damals hatten sich die Beefeater Schneeballschlachten geliefert, die der legendären Schlacht zur Verteidigung des Towers im Bauernaufstand von 1381 in nichts nachgestanden hatten.
Der Kanarienvogel hüpfte in seinem Käfig von Stange zu Stange, während sie selbst zu ihrem Barhocker zurückkehrte und die Bekanntmachung zu Ende schrieb, mit der sie das fünfunddreißigjährige Monopoly-Verbot aufhob. Es war von ihrem Vater verhängt worden, weil der Tower-Arzt weitergespielt hatte, während die Wirtsfrau im Stockwerk darüber auf dem Küchenboden entbunden hatte. Das Verbot hatte das Spiel in den Untergrund gezwungen, und etliche Beefeater hatten angefangen, im Untergeschoss ihrer Behausungen ihr eigenes Bier zu brauen, um den Kummer zu ertränken, dass sie in ihrem eigenen Wohnzimmer vom Arzt geschlagen worden waren. So hatte das Spielverbot zu einem Einbruch der Einnahmen des Rack & Ruin geführt. Da sich ihr Leben jetzt für immer ändern sollte, war Ruby Dore entschlossen, sich ein wenig von dem Umsatz zurückzuholen.
Nachdem sie die Bekanntmachung an die Tafel in der Nähe der Tür gepinnt hatte, las sie noch einmal die Regeln, die sie darunter aufgelistet hatte. Um den legendären Streitigkeiten von vornherein entgegenzuwirken, war das Spielen mit dem Stiefel verboten. Jeder, der beim Schummeln erwischt wurde, würde sechs Monate lang auf jedes Pint einen Aufschlag zahlen. Und dem Tower-Arzt war das Spielen nur gestattet, wenn kein medizinischer Notfall vorlag.
Wenig später schob Rev. Septimus Drew die schwere Tür auf, in der Hand seine Waffe der Verführung, und stellte erleichtert fest, dass er der einzige Gast war. Von Ruby Dore war allerdings auch nichts zu sehen. Mehrere Minuten lang stand er auf den ausgetretenen Steinplatten und fragte sich, wo sie wohl sein mochte; schließlich stellte er den Treacle Cake auf den Tresen, setzte sich auf einen Barhocker und nahm den Schal ab. Er griff zum nächstbesten Bierdeckel und las den Spruch auf der Rückseite. Dann schaute er sich in der Bar um und fragte sich, ob es für einen Mann vom geistlichen Stand wohl unziemlich war, mit einem selbstgebackenen Kuchen um eine Frau zu werben.
Aus Sorge, dass jeden Moment ein Beefeater hereinkommen und ihn in flagranti mit seinem Tuppertopf erwischen könnte, stand er schnell auf und ging. Als er sich in der Kälte seinen Schal um den Hals wickelte, hörte er plötzlich ein Geräusch aus dem ungenutzten Well Tower. Unfähig, dem Reiz einer offenen Tür zu widerstehen, trat er ein. Ruby Dore hatte ihm den Rücken zugewandt, war aber im Dämmerlicht sofort an ihrem Pferdeschwanz zu erkennen. Gerade als er ihr verraten wollte, dass er ihr im Pub eine Kleinigkeit nach dem Rezept seiner Mutter hinterlassen hatte, drehte sich die Wirtin um und sagte: »Kommen Sie mal und schauen Sie sich die herrlichen zahmen Wanderratten der Königin an.«
Jetzt sah der Kaplan auch die gemeingefährlichen gelben Zähne hinter ihr aufblitzen.
»Der Wärter der Königlichen
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