Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
Stimmung. Solange Cassandra sich erinnern konnte, war Nells Garten ein wilder, von schmalen, gewundenen Steinpfaden durchzogener Dschungel aus Stauden, Kräutern und einjährigen Blumen gewesen. So ganz anders als die anderen Vorortgärten mit ihren großen, gelblich verdorrten Rasenflächen und vereinzelten, halb vertrockneten Rosen in weiß gestrichenen Autoreifen.
Hinter dem Haus blieb Cassandra stehen. Ein dichtes Gewirr aus Brombeerranken hatte den Weg überwuchert, mindestens drei Meter hoch. Die Sträucher wuchsen in einer geraden Linie, so als hätten sie aus eigenem Antrieb eine Mauer gebildet.
Cassandra ging an der Hecke entlang, betastete hier und da
gezackte Efeublätter. Sie kam nur langsam voran, denn das Gestrüpp reichte ihr bis zu den Knien, und sie musste aufpassen, um nicht bei jedem Schritt zu stolpern. Auf halbem Weg entdeckte sie eine kleine Lücke in den Ranken, die aber groß genug war, um zu sehen, dass keinerlei Licht hindurchfiel, dass etwas Massives sich dahinter befinden musste. Vorsichtig, um sich nicht an den Dornen zu verletzen, langte Cassandra in die Lücke hinein, immer tiefer, bis die Hecke ihren Arm bis an die Schulter verschlungen hatte. Dann trafen ihre Finger auf etwas Hartes und Kaltes.
Eine Mauer, eine moosbedeckte Steinmauer, schloss sie, als sie ihre grün verschmierten Fingerspitzen betrachtete. Sie wischte sich die Hände an ihren Jeans ab, zog die Besitzurkunde aus der Tasche und faltete den Lageplan auseinander. Das Haus war deutlich eingezeichnet, ein kleines Quadrat am Ende des Grundstücks. Aber dem Plan war ebenfalls zu entnehmen, dass die hintere Grundstücksgrenze ein ganzes Stück weiter entfernt verlief. Cassandra faltete den Plan wieder zusammen und steckte ihn ein. Wenn der Plan stimmte, dann war diese Mauer Teil von Nells Besitz, nicht seine Begrenzung. Sie gehörte zum Haus, ebenso wie das, was auch immer sich dahinter befand.
Cassandra kämpfte sich weiter an der Mauer entlang in der Hoffnung, ein Tor oder eine Tür oder irgendeinen Durchgang zu finden. Die Sonne war höher gestiegen, und die Vögel zwitscherten weniger aufgeregt. In der Luft lag der schwere, süße Duft einer Kletterrose. Obwohl es Herbst war, begann Cassandra zu schwitzen, wunderte sich, dass sie sich England immer als kaltes Land vorgestellt hatte, das keine Sonne kannte. Als sie stehen blieb, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, stieß sie sich an einem knorrigen, tief hängenden Ast den Kopf, der wie ein Arm über die Mauer ragte.
Ein Apfelbaum, stellte sie fest, als sie die glänzenden, goldenen Früchte sah, die der Ast trug. Sie waren so reif und dufteten
so köstlich, dass sie nicht widerstehen konnte, einen zu pflücken.
Cassandra warf einen Blick auf ihre Uhr, betrachtete noch einmal sehnsüchtig die Brombeerhecke und machte sich auf den Rückweg. Später konnte sie ihre Suche nach einem Durchgang fortsetzen, aber sie wollte den Gärtner nicht verpassen. Das Gefühl der Abgeschiedenheit war so stark, dass sie fürchtete, ihn von hier aus nicht zu hören, wenn er nach ihr rief.
Sie schloss die Haustür auf und trat ein.
Das Haus schien zu lauschen, abzuwarten, was sie tun würde. Zärtlich fuhr sie mit der Hand über eine Wand. »Mein Haus«, flüsterte sie. »Das ist mein Haus.«
Ihre Worte drangen dumpf in die Wände ein. Wie seltsam, wie unerwartet. Sie ging in die Küche, an dem Spinnrad vorbei und in das kleine, nach vorn gelegene Wohnzimmer. Jetzt, wo sie allein war, machte das Haus einen ganz anderen Eindruck auf sie. Irgendwie vertrauter, wie ein Ort, an dem sie vor langer Zeit schon einmal gewesen war.
Sie setzte sich in einen alten Schaukelstuhl. Cassandra kannte sich mit alten Möbeln aus und wusste, dass er nicht zusammenbrechen würde, dennoch war sie vorsichtig. Als wäre der rechtmäßige Besitzer des Stuhls irgendwo in der Nähe und könnte jeden Augenblick auftauchen und einen Eindringling auf seinem Platz vorfinden.
Während sie den Apfel an ihrem T-Shirt blank rieb, schaute sie durch das staubige Fenster. Ranken hatten vor der Scheibe ein grünes Geflecht gebildet, aber durch die Lücken konnte sie in den verwilderten Garten sehen. Sie entdeckte eine kleine Skulptur, die ihr vorher gar nicht aufgefallen war, ein Kind, ein kleiner Junge, der auf einem Stein hockte und mit großen Augen das Haus betrachtete.
Cassandra biss in ihren Apfel und genoss den süßen Duft. Ein Apfel von einem Baum in ihrem eigenen Garten, einem vor langer,
langer
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